„Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“

Bücher, die nicht in den Bereich politische Systeme oder Grenze gehören.

„Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“

Beitragvon pentium » 22. August 2025, 13:16

Der Linken-Politiker Bodo Ramelow und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk analysieren in einem neuen Buch den Stand der Dinge 35 Jahre nach der deutschen Vereinigung. Der Befund beunruhigt.

Von DPA

Berlin - Bodo Ramelow hatte Ostverwandtschaft und reiste seit Anfang der 1980er-Jahre regelmäßig von Marburg (Hessen) aus im kleinen Grenzverkehr in die DDR. Deshalb dachte er eigentlich, er wüsste Bescheid über Land und Leute. „Als ich dann herkam, stellte ich fest, ich hatte gar nichts verstanden“, sagt der frühere Thüringer Ministerpräsident, heute Bundestagsvizepräsident, von der Linken.

Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs in Ostberlin auf, und zwar nach eigenen Worten in einem staatsnahen Elternhaus, mit dem er später brach. Als Jugendlicher war er immer auf dem Laufenden, was in Westberlin in den Clubs und den Kinos lief. „Mit einem Teil meines Wesens lebte ich immer im Westen“, sagt der Historiker und Autor diverser Bücher zur deutschen Vereinigung.

Der Westler mit Ostgeschichte, der Ostler mit dem Blick nach Westen: In einem neuen Gesprächsband analysieren Ramelow (69) und Kowalczuk (58) den Stand der Dinge 35 Jahre nach der Deutschen Einheit. Nicht nur der Titel lässt erahnen, es steht nicht zum Besten: „Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“. Die beiden erzählen eine Geschichte voller Missverständnisse auf dem Weg in eine zerrüttete Beziehung.

Da sind die Fehler der Vereinigung und die überzogenen Erwartungen im Osten an die D-Mark, an die Freiheit, an das bundesdeutsche System. Da ist die westliche Arroganz, das Unverständnis für die Verhältnisse in der DDR. Selbst die westdeutschen Gewerkschaften seien von vielen im Osten als „Besatzungsarmee“ wahrgenommen worden, erinnert sich Ramelow, der 1990 als Gewerkschafter nach Thüringen kam.

Da ist das sehr unterschiedliche Empfinden. Für die Ostdeutschen war jeden Tag alles neu nach der friedlichen Revolution. „Diese Dynamik wird oft vergessen: Man stand morgens anders auf, als man abends ins Bett gegangen war. Sicher nicht am Rhein, aber ganz bestimmt an der Werra oder an der Spree“, sagt Kowalczuk. Ramelow sieht auch den drastischen Einbruch am Arbeitsmarkt und räumt ein: „Im Westen gab es für dieses Problem keinerlei Sensibilität.“ Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Kowalczuk hat mehrfach darüber geschrieben, unter anderem in seinem Buch „Die Übernahme“. Das Gefühl der Zurücksetzung in Ostdeutschland, die Wut über westdeutsche Dominanz trug auch das Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, das 2023 zum Bestseller wurde. Was die Analyse von Ramelow und Kowalczuk ungewöhnlich macht, ist das Format – es ist ein über knapp 240 Seiten geführtes Küchentischgespräch mit unendlich vielen Facetten. Mal geht es um sprachliche Unterschiede bei Plastetüte und Zellstofftuch, mal um Jugendweihe und Gesundheitswesen, mal um den unterschiedlichen Blick auf die USA und Russland, mal um das Wirtschafts- und Sozialsystem, mal um das Desinteresse der Medien am Osten und den Film „Das Leben der anderen“.

In diesem Mäandern nähern sich die beiden Beobachter ihrer Diagnose der deutschen Gegenwart, und auch die fällt beunruhigend aus. „Viele im Westen ahnen gar nicht“, sagt Kowalczuk, „wie tief der Hass in weiten Kreisen des Ostens auf den Westen ist, auf Westler, auf das westliche politische System. Es ist wirklich schlimm.“ Von da ist es nicht weit zur Erkenntnis, dass Parteien wie die AfD diesen Unmut nutzen.

Zugleich erwartet Kowalczuk, dass der Osten bei der gesellschaftlichen Entwicklung nur eine Art Vorhut ist. „Im Osten geschieht vieles politisch Negative oder Reaktionäre früher, schneller und radikaler als anderswo“, sagt der Historiker. „Das hängt mit der doppelten Transformationserfahrung zusammen, über die wir sprachen. Aber alles, was im Osten geschieht, vollzieht sich irgendwann auch im Westen mit zeitlicher Verzögerung.“

Er kommt dabei auf das Bild der „neuen Mauer“, die Deutschland beim AfD-Ergebnis der Bundestagswahl scheinbar trennte. „Legt man die Zweitstimmenergebnisse zugrunde, ist der Osten blau. Guckt man genauer hin, sind die Grenzen längst fließend.“ Die beiden Gesprächspartner blicken mit Sorge auf die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 14. September.

Wie schlägt man den Bogen von Misstrauen und Hass, vom schleichenden Vertrauensverlust, von den Gefahren für die Demokratie hin zu einem irgendwie zuversichtlichen Ausblick? Ramelow spricht von seinem Traum gelebter Demokratie als stetige Verbesserung. Kowalczuk erinnert daran, dass historische Prozesse nicht linear verlaufen. Am Ende lenken sie den Blick auf Europa. „Eine deutsche Verfassungsdebatte, die in eine europäische Verfassung mündet, wäre ein lohnendes Projekt für die nächsten Jahre“, sagt Ramelow. Und Kowalczuk: „Wir haben viel vor uns.“ (dpa)

Das Buch Ilko-Sascha Kowalczuk, Bodo Ramelow: „Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“ ; C.H. Beck; ISBN 9783406838316, 239 Seiten, 24 Euro.

„Viele im Westen ahnen gar nicht, wie tief der Hass in weiten Kreisen des Ostens auf den Westen ist.“

Ilko-Sascha Kowalczuk Historiker
*Dos Rauschen in Wald hot mir'sch ageta, deß ich mei Haamit net loßen ka!* *Zieht aah dorch onnern Arzgebirg der Grenzgrobn wie ene Kett, der Grenzgrobn taalt de Länder ei, ober onnere Herzen net!* *Waar sei Volk verläßt, daar is net wert, deß'r rümlaaft of daaner Erd!*
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Re: „Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“

Beitragvon augenzeuge » 22. August 2025, 13:25

Da ist die westliche Arroganz, das Unverständnis für die Verhältnisse in der DDR.


Das hat sich gedreht, würd ich sagen. Heute zeigt sich mancher Ossi arrogant und hat kein Verständnis für die Verhältnisse im Westen Deutschlands. [flash]

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Re: „Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“

Beitragvon Danny_1000 » 22. August 2025, 14:49

pentium hat geschrieben:Der Linken-Politiker Bodo Ramelow und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk analysieren in einem neuen Buch den Stand der Dinge 35 Jahre nach der deutschen Vereinigung. Der Befund beunruhigt....

Dass ausgerechnet die Beiden ein Buch schreiben ...?
Ich hatte die Möglichkeit Bodo Ramelow einige Male persönlich zu sprechen. Als MP von Thüringen war er für mich kompetent und kannte sehr gut die Probleme in den einzelnen Regionen des Landes. Da wo das Land helfen konnte, tat er das in vielen Fällen auch. Sein Herangehen war meistens pragmatisch.

Er genoss persönliche hohe Sympathiewerte und kam bei seines regelmäßigen Landesbereisungen recht unkonventionell und volksnah daher. In unsere Einrichtung stand er mal völlig unangemeldet in der Tür und ohne großen Tross – wir wußten natürlich, dass er kam aber nicht wann – und fragte lautstark, ob er denn hier mal einen Kaffee kriegen könnte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich dann ein sehr langes und für uns vorteilhaftes Gespräch.

Die Diskrepanz seiner hohen Akzeptanz im Lande und dem Absturz seiner Partei bei den Wahlen 2024 in Thr. konnte er für mich eigentlich nie so richtig erklären.

Was mich an ihm aber besonders beeindruckte war sein sehr hohe Stellenwert von der Würde eines Menschen. Das war nicht nur Gelaber, sondern das lebte er vor.

Danke für den Buchtipp, Pentium.
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