
Ich bin in Freiberg/ Sachsen 1976 geboren und in einer wohlbehüteten, christlichen Familie aufgewachsen, die versuchte, sich mit dem DDR-Regime zu arrangieren. Um eine Chance auf Erweiterte Oberschule (EOS) und Studium nicht zu verspielen, wurde ich in der ersten Klasse Jungpionier. Später trat ich auch den Thälmannpionieren bei. Bis zur FDJ musste ich, Gott sei Dank, nicht mehr durchhalten, die Wende kam dem zuvor. Auch die Parteilosigkeit meiner Eltern und unser christlicher Glaube konnte so manchen Stein in der schulischen wie beruflichen Laufbahn bedeuten.
Im Sommer 1989 war ich 12 Jahre alt. Es war gerade Ferienzeit, als Berichte, meist nur über’s Westfernsehen, zeigten, dass Menschen in der Budapester Botschaft auf ihre Ausreise bzw. Flucht warteten. Es kamen immer nur ein paar über die grüne Grenze nach Österreich, um weiter in den “goldenen Westen” zu gelangen. Oft wurden Familien zerrissen und mühsam aufgebaute Existenzen aufgegeben, um vom großen Kuchen etwas abzubekommen. Wenige Wochen später suchten auch Auswanderer in Prag und Warschau Zuflucht, und täglich wurden es mehr. Einige wurden gefasst beim Durchschwimmen der Oder, aber auch beim Versuch, den Zaun zur BRD-Botschaft zu überklettern. Die im September begonnenen Montagsdemonstrationen wurden immer besuchter und zu einem wöchentlichen Wagnis für viele, die eine friedliche Änderung wollten. Denn allzu oft standen Demonstranten mit Kerzen in den Händen vor Polizei und Panzerfahrzeugen. Unser Pfarrer berichtete uns im Konfirmationsunterricht über seine Erlebnisse in Leipzig.
Bis dahin war für mich alles weit weg und nicht greifbar, eben nur ein Bericht im Fernsehen. Bis im Oktober ‘89 meine Tante (Schwester von meinem Vater), Onkel, Cousine und Cousin eine Urlaubsreise nach Polen unternahmen, die aber eine geplante Ausreise in die BRD war. Davon habe ich erst später erfahren, auch, dass sie meine Eltern gefragt hatten, ob wir nicht mitkommen würden. Wir blieben, und sie waren in Warschau, keiner von uns allen wusste, ob und wann wir uns einmal wiedersehen würden. Da zu Ostzeiten unsere Familie aus vielerlei Gründen eng miteinander verbunden war, kam die Nachricht von der Flucht für mich völlig überraschend und unerwartet. Erfahren haben wir es durch ein Telegramm von Ihnen. Ich konnte damals die Ausmaße noch nicht begreifen und war deshalb wie gelähmt. Keiner wusste von uns, ob wir jetzt nicht von der Stasi belästigt wurden bzw. wie es überhaupt weitergehen würde.
Als dann die Ausreise von den vieren von Warschau in die BRD ohne große Vorkommnisse vonstatten ging, waren wir erst einmal etwas erleichtert. Jeden Abend schauten wir gespannt Nachrichten, besonders, wenn Live-Übertragungen aus Warschau kamen, ob wir nicht vielleicht doch einen von den Vieren sehen konnten.
Die Demonstrationen wurden im ganzen Land ausgeweitet. Bald gingen auch viele Leute in Freiberg auf die Straße, so auch wir. Begleitet von Polizei, wurden Parolen zum herbeigesehnten Ende der Unterdrückung und Diktatur gerufen, und es war immer ein Tanz auf Messers Schneide. Niemand wusste, wer wen bespitzelte, und wenn es doch politisch wieder umschlagen sollte, wie es dann weitergeht.
Nur einen Monat später fiel die Mauer, eine Nachricht, die kaum jemand glaubte. Ich weiß noch, dass es uns mein Vater sagte. Er selbst hat es im Krankenhaus erfahren. Nachts muss mitten in einer Operation eine Schwester von Ihrem Sohn einen Anruf bekommen haben, dass er jetzt in Westberlin sei. Es war das erste Mal, dass im Freiberger OP-Saal das Radio lief. Wenn man schon nicht dabei sein konnte, wollte es doch jeder immer wieder hören, um auch jeden Irrtum auszuschließen.
Jetzt, da die Grenze offen und die Angst in den Hintergrund gerückt war, machten sich mein Vater und ein Freund sogar bis nach Warschau auf, um den zurückgelassenen Trabbi von meiner Tante abzuholen. Zur damaligen Zeit war ein fahrbarer Untersatz sehr schwer beschaffbar (Wartezeit bis zu 14 Jahre) und auch sehr teuer. Nun hatten wir 2 Autos und eine zerrissene Familie.
Abwechslung boten ein Besuch in Marktrewitz und der zweite Besuch in Berlin. Das Begrüßungsgeld wollte abgeholt werden. Diesmal machten uns Warteschlangen nichts aus. Genüsslich tranken wir kostenlose heiße Suppe. Das Angebot im Westen war einfach überwältigend. Wir sahen Dinge zum ersten Mal in unserem Leben. Es gab alles im Überfluss. Kurz und gut, ich war wie überrollt und völlig erschlagen.
Bis Weihnachten waren die Klassen samstags so gut wie leer gefegt, mindestens 2 Drittel fehlten. Offiziell meist wegen Krankheit, jeder wusste aber mittlerweile, wo alle abgeblieben waren und das erste Mal im Stau standen. Wir kannten keine Staus, so viele Autos gab es gar nicht. Also war es für uns ein riesiges Erlebnis, in so einer Blechkolonne ein paar Stunden zu verbringen.
Aufgrund des zunehmenden Schülermangels am Samstag wurde der Unterricht erst auf jeden 2. Samstag gelegt und später gänzlich für diesen Wochentag abgeschafft.
Unser dritter Westbesuch startete am 2. Weihnachtsfeiertag nach Oldenburg zu der anderen halben Familie. Ich kann mich deshalb so gut an das Datum erinnern, weil gerade auch an diesem Tag meine beste Freundin mit ihrer Familie nach Köln ausreiste.
Die Hinreise war auch sehr abenteuerlich. Die Gefahren der Grenzkontrollen sind zu dieser Zeit noch nicht gebannt gewesen. Also wurden auf der Fahrt bis zur deutsch-deutschen Grenze Ausreden überlegt. Die mitgebrachte Weihnachtsente war für uns gedacht, weil wir zu angeblichen Vegetariern fuhren. Das Silberbesteck konnten wir dagegen etwas schlechter begründen. Denn es war fraglich, ob die Beamten uns es abgenommen hätten, dass unsere Gastgeber über zu wenig Haushaltsgegenstände verfügen. Für die geschmuggelte wertvolle Madonnenfigur ist uns bestimmt auch noch etwas eingefallen. Zum Glück sind wir nicht in die Verlegenheit gekommen, irgendwelche Ausreden zu gebrauchen, denn unsere Straße war provisorisch mit Betonplatten ausgelegt worden und ohne Grenzkontrollen passierbar.
Zumindest hatten wir schöne Weihnachtstage mit sächsischem Entenbraten. Der Abschied war für alle dennoch sehr schwer, auch wenn es nun fast sicher feststand, dass wir uns nun öfter sehen konnten. Erst da ist es mir richtig bewusst geworden, dass sie nicht mehr in Freiberg wohnten. Deshalb war für mich das Ade-Sagen besonders schwer.
Das waren im kurzen Überblick meine Eindrücke, die ich vor 11 Jahren hatte. Es kann gut möglich sein, dass ich Dinge zeitlich durcheinander gebracht habe. Es sei mir hoffentlich verziehen. Es ging mir auch mehr darum, meine Erinnerungen so aufzuschreiben, wie sie mir noch im Gedächtnis sind und wahrscheinlich auch bleiben werden.
Uta Chudoba
http://www.ddr-zeitzeugen.de/html/erinn ... ichen.html















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Du weißt es ja bestimmt und darum wirst Du immer die Hände über ihn halten, ein guter Zug von Dir.