1. Armut in der DDR – Wie beschreiben, was es nicht geben durfte?
2. Arbeitsmoral und „Überbleibsel“: Armut im Selbstverständnis der DDR
3. AltersrentnerInnen: Rüstig bis zum Lebensende?
4. Kinderreiche Familien: Alles für das „Wohl der Jüngsten“?
5. Abweichende Perspektiven: „Dissoziale Familien“
6. Armut in der DDR – Eine Bilanz
Da ja die selbsternannten Experten des Forums gerne und ständig die Aussagen unseres Users Volker Zottmann bestreiten, dass die Lebensbedingungen für Rentner ungeheuerlich schlecht waren, zitiere ich einmal den Punkt 3 des Links, der die Festellungen von Volker völlig bestätigen.
Januar 1963: Rentnerinnen in Wismar erhalten von einem örtlichen Bäckermeister im Veteranenklub Kaffee und Kuchen serviert. In der damaligen Bildlegende hieß es zu dieser Nachbarschaftshilfe: „Einen behaglichen Aufenthalt bieten die sechs modern eingerichteten Klubhäuser während der kalten Tage den Wismarer Rentnern.“ Deren eigene Wohnungen waren meist weniger modern und im Winter oft kalt.
(Bundesarchiv, Bild 183-B0128-0010-001, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Zentralbild, Foto: Karnitzki)
Im Fokus wissenschaftlicher Studien stand nicht selten die Situation der AltersrentnerInnen. Die soziale Misere vieler, besonders weiblicher Rentenempfänger war mitnichten nur ein Problem der unmittelbaren Nachkriegsjahre.31 Die Sicherung der Existenz im Alter kann mit Gerhard A. Ritter als durchgängige „Achillesferse der Sozialpolitik der DDR“ bezeichnet werden.32 Immerhin ein Drittel der Bevölkerung lebte nach 1961 weiter in einem Ein-Personen-Haushalt; in erster Linie handelte es sich um Witwen.33 Gerade unter diesen traten – zumal bei Krankheitsfällen und ohne Unterstützung durch Kinder – „massive soziale Probleme“ auf, betonte etwa der Hallenser Ökonom Josef Bernard im Jahr 1967.
Die Rentner und Rentnerinnen selbst sahen ihre Lage bisweilen als dramatisch, besonders gemessen an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung der DDR und dem Auseinanderdriften des verfügbaren Einkommens im Vergleich selbst zu den unteren Einkommenslagen der (arbeitenden) Durchschnittsbevölkerung. Im Jahr 1967 vermeldete ein im Vorfeld des VII. Parteitags erstellter Stimmungsbericht zum Lebensstandard der Bevölkerung große Angst vor der Situation im Alter.35 Die Enttäuschung über die spärlichen Renten nach mitunter 50 Jahren Erwerbsarbeit war groß. Gerade bei Rentnerinnen ging die Höhe der Altersgelder aufgrund geringerer Verdienste oft kaum über die Mindestrente hinaus, die 1968 auf 150 Mark erhöht wurde.
Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass die Mehrheit der (zumal alleinstehenden) RentnerInnen in einer prekären wirtschaftlichen Situation lebte. Intern ging die Lebensstandardforschung 1972 von zwei Dritteln unterhalb der errechneten Armutsgrenze aus.37 Auch wenn der Anteil armer Rentnerhaushalte bis 1988 auf 45 Prozent sank,38 gehörten pflegebedürftige Ältere39 und Witwen zu den Randgruppen der DDR-Gesellschaft. Letztere erhielten in besonderen Härtefällen Mietzuschüsse und wurden nur durch die sozialen Leistungen lokaler Verwaltungen und der Volkssolidarität vor dem Absinken in noch problematischere Versorgungssituationen bewahrt. Von den ca. drei Millionen Altersrentnern am Ende der DDR waren 74 Prozent Frauen. Gerade sie waren in puncto Rentenhöhe stark benachteiligt:40 Diese betrug 1983 bei einem Mann durchschnittlich 410 Mark, bei einer Frau lediglich 314 Mark. Noch deutlicher waren die Unterschiede bei der Freiwilligen Zusatzrente (FZR); hier bezogen Männer im Schnitt dreimal so viel Geld
Januar 1979: Zwei Rentner in Suhl, 78 bzw. 87 Jahre alt. Anders als im Westen hatte sich der Lebensstandard der meisten alten Menschen in der DDR während der 1960er- und 1970er-Jahre kaum verbessert. In der originalen Bildlegende hieß es beschönigend: „Um den älteren Bürgern den beschwerlichen Weg zum Klub der Volkssolidarität in diesen Tagen zu ersparen, versorgt die junge Hauswirtschaftspflegerin Rentner in der Wohnung mit dem warmen Mittagessen.“
(Bundesarchiv, Bild 183-U0104-050, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Zentralbild, Foto: Helmut Schaar)
Die niedrigen Renten führten zu Unterversorgungen in allen Lebensbereichen. In seiner Dissertation aus dem Jahr 1974 benannte der Wirtschaftswissenschaftler Hilmar Polle das „Hauptproblem“ der DDR-Rentner: Sie seien gezwungen, auf preiswertere Fleisch- und Wurstwaren sowie Obst- und Gemüsesorten von niedriger Qualität auszuweichen. Zwar sei eine gesunde Ernährung für die meisten Rentner möglich, doch setze das Einkommensniveau den älteren Menschen hierfür „gewisse Grenzen“.42 Häufig sei die Kost einseitig und unausgewogen, d.h. fettreich und vitaminarm. Neben diesen Defiziten wurde ein geringer Ausstattungsgrad mit „hochleistungsfähigen Haushaltsgeräten“, Schuhwerk und Bekleidung moniert. Polle forderte, die Einkommen der Rentner bis 1990 um das 1,7- bis 1,8-fache zu erhöhen, „wenn nicht die Befriedigung anderer lebensnotwendiger Bedürfnisse eingeschränkt werden soll“.43
Insbesondere die Wohnsituation von Altersrentnern rückte nach der Verkündung der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ im Jahr 1971 in den Blickpunkt empirischer Forschungen. Bereits 1974 verwies eine Studie ungewohnt offen auf die „besonders schlecht[e]“ Lage der Altersrentner. Von 1.000 Haushalten dieser Gruppe hatten 862 eine Wohnung ohne Fern- oder Zentralheizung, Bad und Innentoilette; sie lebten demnach in sanierungsbedürftigen Altbauten.44 Eine sozialwissenschaftliche Abschlussarbeit dokumentierte 1983 ebenfalls, dass der Wohnkomfort der DDR-Rentner erheblich unter dem Durchschnitt des Landes liege: Lediglich ein knappes Viertel ihrer Wohnungen sei mit modernen Heiz- und Sanitäranlagen versehen; jeder vierte Befragte müsse ohne Bad in der eigenen Wohnung auskommen. Jenem guten Fünftel, das monatlich 300 Mark oder weniger zur Verfügung hatte, sei es nicht annähernd möglich, „mit dem insgesamt wachsenden Lebensniveau der Werktätigen Schritt zu halten“. Sechs Prozent der Befragten beschrieben ihre Lebensbedingungen als „sehr unzureichend“.45 Besonders augenfällig wurde dieser Missstand im Vergleich mit den steigenden Erwartungen an die Lebens- und Wohnkultur – und zwar sowohl in der DDR als auch im deutsch-deutschen Vergleich. DDR-Rentner durften ab 1964 in die Bundesrepublik reisen, was einige nutzten, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Viel mehr Menschen allerdings brachten das Wissen um die Standards der westlichen dynamischen Rentenanpassung und natürlich des allgemeinen Konsumniveaus mit zurück in die DDR.
Entgegen der Hinweise aus der Wissenschaft hatte die staatlich gelenkte Propaganda über DDR-Rentner bis zum Mauerfall ausschließlich Positives zu berichten und kaschierte das Thema Altersarmut. In der breiten Öffentlichkeit wurden die Rentner als „Veteranen der Arbeit“ verherrlicht und in ihrer Bedeutung für den „Arbeiter- und Bauernstaat“ verklärt. Die DDR-Leitmedien verbreiteten lieber das Bild des „rüstigen“ anstelle des „armen“ Alten.
Der Kontrast ist frappierend: Einer durchgreifenden Verbesserung der sozialen Lage von armen Rentnern und vor allem Rentnerinnen räumte die SED-Spitze niemals Priorität ein. Im Zentrum der Aufmerksamkeit von Honeckers Lohn- und Wohnungsbaupolitik standen die (maskuline) Erwerbsarbeit und das soziale Ideal der jungen Kleinfamilie. Die prekäre Lebenslage vieler RentnerInnen hingegen verklärte die Partei mit Euphemismen des „Altseins“. Der autoritäre Paternalismus der SED wies ihnen Werte wie Demut, Bescheidenheit und Verzicht zu. Die Führung tat das ihr Mögliche, um die hässlichen Seiten des Alters in der DDR aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verdrängen.
https://zeithistorische-forschungen.de/2-2013/id=4591