Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee war der erste, der öffentlich sein Missfallen mit den Ergebnissen der Hallenser Ökonomen bekundete. "Nichts Neues", bürstete er die Forscher ab. Und: Die vorgeschlagenen Rezepte seinen überwiegend längst bekannt und wenig hilfreich.
Der Grund für Tiefensees Missvergnügen: Der Chef des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) hatte wieder einmal Bilanz gezogen, wie weit die ostdeutsche Wirtschaft denn nun vorangekommen ist mit ihrem Aufholprozess. Mit ernüchterndem Ergebnis: Nach einem Zwischenspurt in den Neunzigerjahren stockt der Aufholprozess. Die neuen Bundesländer können seitdem gerade noch Schritt halten mit dem allgemeinen Produktivitätsfortschritt im übrigen Deutschland und den G7-Staaten.
Selbst diese Tatsache könnte man noch einigermaßen nüchtern betrachten und über Lösungsmöglichkeiten nachdenken - wenn die Ursachen-Analyse der Ökonomieprofessoren nicht ein paar äußerst unbequeme Erkenntnisse liefern würde. Würde man umsetzen, was die Forscher vorschlagen, wäre wohl Feuer unterm Dach in den ostdeutschen Parlamenten.
Scheu vor Fremden
Denn die IWH-Experten plädieren dafür,
Subventionen nicht mehr zu verwenden, um überkommene Strukturen zu erhalten, vielmehr solle man sie stattdessen in aussichtsreiche Zukunftsregionen investieren.
Außerdem müsse man den Ostdeutschen die Scheu vor Fremden nehmen, denn ohne ausländische Arbeitskräfte lasse sich angesichts des demografischen Wandels schon in naher Zukunft kein Produktivitätsfortschritt mehr erzielen.
Und, drittens, es müssten Wege gefunden werden, um die ostdeutschen Schüler zu motivieren, ihren Schulabschluss zu machen. Die Zahl der Schulabbrecher ist hier nämlich signifikant hoch.
Dass Politiker wie Tiefensee insbesondere vor Wahlen empfindlich auf Analysen dieser Art reagieren, kann man im Prinzip verstehen. Denn für einen Gutteil der Probleme tragen sie die Verantwortung. Statt den Wählern von vornherein die unangenehme Wahrheit und anstrengende Maßnahmen zu verkünden, glichen die Landesregierungen die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit von Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben immer wieder mit Subventionen aus. In der Landwirtschaft zum Beispiel befinden sich sieben der zehn am stärksten geförderten Regionen in Ostdeutschland.
Bildungspolitik vernachlässigt
Auch ihre einstige Paradedisziplin, die Bildungspolitik, haben die ostdeutschen Politiker zu lange vernachlässigt. Nirgendwo ist die Anzahl der abgebrochenen Schulkarrieren so hoch wie hier. Die Gründe dafür sind sicher vielfältig und sehr komplex. Doch fest steht auch: Nirgendwo ist der Mangel an qualifizierten Lehrkräften so groß wie im Osten der Republik. Dabei lässt sich leicht langfristig voraussehen, wie viele Schüler in die Schulen strömen werden und wie viele Lehrer in den Ruhestand gehen.
Auch die Rezepte, die die IWH-Forscher präsentieren, um der ostdeutschen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, hören Tiefensee und Co. nicht gerne. Denn sie müssten ihren Wählern in der Provinz erklären, warum sie lange gewohnte Zuwendungen streichen.
Und sie müssten ihnen erklären, dass sie sich mit neuen Nachbarn mit ausländischen Namen werden arrangieren müssen, wenn die Betriebe in ihrer Region die Wachstumschancen in der Zukunft wahrnehmen wollen. Und all das müssten sie erklären gegen den Chor der Populisten, die mit Vereinfachungen, Verdrehungen und Diffamierungen arbeiten, um ihre rückwärtsgewandten Ziele durchzusetzen. Da beschwichtigen sie lieber. Ist ja bald Wahl.
http://www.spiegel.de/wirtschaft/sozial ... 56219.html