Filmfestival Cottbus: Der humanistische Ansatz der Operativen Psychologie, oder Schlafentzug im Stasi-Keller. In Der schwarze Kasten konfrontieren die Filmemacher einen Täter mit seinem Erbe.
Der Hörsaal, in dem Dr. Jochen Girke seine Vorlesung hält, ist leer. Seine Worte hallen von den leeren Rängen wider, in denen noch vor einem Jahr die Studierenden der Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam saßen. Das Erbe seiner Lehre ist auch nach der Wende und dem Ende der Stasi geblieben. Tamara Trampe und Johann Feindt konfrontieren Girke in ihrem bereits 1990 begonnenen und 1992 fertiggestellten Film gleich zu Beginn mit diesem Erbe. In den ersten Minuten des Interviews, das das Herzstück des Films bildet, nennt Trampe den ehemaligen Dozenten einen Schreibtischtäter. Der Duktus seiner Reaktion fasst zugleich den Status seiner Selbstreflexion zusammen: In Kombination mit einem angedeuteten Schulterzucken und einem Nicken gibt Girke ein schlichtes „Joa“ von sich. Der ehemalige Professor und Stasi-Offizier hat seine Täterrolle für sich umgedeutet. So weit, dass sein Eingeständnis ihn keine große Überwindung mehr kostet.
Seine Rolle im Gefüge der Psychologielehre, die der Stasi als wissenschaftliche Basis für ihre Verhörmethoden diente, bezeichnet Girke als „humanistischen Ansatz“, einen Versuch, innerhalb der Methoden von Freiheits- und Schlafentzug und psychologischer Folter einen menschlichen Umgang zu finden. Dass sich Trampe und Feindt der Illusion dieses pathologischen Rechtfertigungs- und Verharmlosungsspagats entgegenstellen, bedarf keiner Erwähnung. Doch sowohl der Zeitpunkt als auch der dokumentarische Ansatz des Films heben ihn aus einen generischen Modus der Konfrontation. So wirft sich Trampe zwar selbst in die Bresche, um ihr Gegenüber mit den eigenen Einwänden aus der „Selbstbetäubung des eigenen Rechtsgefühls“ zu reißen, sieht, wie ihre logisch makellos zusammengesetzten Argumentationsketten, ihre Beschwörungen, ihr Kopfschütteln und ihre Verzweiflung an der über zwei Jahrzehnte geformten Stasi-Perspektive abprallen. Doch Der schwarze Kasten genügt sich nicht mit der Dokumentation eines Verdrängungsmechanismus. Der Film sucht diesen, gemeinsam mit dem damaligen Täter, in einer ferneren Vergangenheit. Fast unbewusst offenbart Girke in den Kindheitserinnerungen, die er schildert, bereits ein Trauma, das er als Täter auf Seite des MfS wieder ausagiert.
So beauftrage Girkes Vater seine Lehrer damit, täglich Reporte über das Fehlverhalten des Jungen zu verfassen. Es ist der Beginn eines langen Traumas, von dem Girke erzählt, als wäre es einem anderen Jungen widerfahren. Als Trampe ihn fragt, wie nah er sich dem Jungen heute noch fühle, von dem er da erzählt, bringt er nur resigniert hervor: „Da ist eine Barriere.“ Jahre nach den Interviews, die Girke mit Trampe führte, wird er diese überwinden und seine Mitschuld an der Folter durch die Stasi eingestehen. Doch seine Kindheit ist nur eines der psychologischen Versatzstücke, zu denen das „Psychogramm“ (so bezeichnet das Regieduo den Film im Untertitel) anhand von Girkes Lebenslauf zurückspult. Seinen Militärdienst tritt er in der Hoffnung an, nach drei Jahren ein Filmstudium beginnen zu können – ein Trugschluss, wie sein Vater mit Genugtuung in einem Interview bestätigt. Stattdessen macht er Karriere beim Ministerium für Staatssicherheit, dem er pflichtbewusst seine angedachten Partnerinnen meldet (und von denen er sich auf Geheiß des MfS wieder trennen wird) und für den er schließlich seine Freunde denunziert. Mit genau diesem Moment stößt der Film das bis dahin fast ambivalent gewordene Täter-Opfer-Verhältnis endgültig um. Statt eines leeren Hörsaals begeht die Kamera nun einen Verhörkeller der Stasi. Hier spricht nicht Girke, sondern sein ehemaliger Kommilitone, Schriftsteller und Stasi-Opfer Jürgen Fuchs. In einer fast zehnminütigen Sequenz zeigt er in einem geisterhaften Schauspiel den „humanistischen Ansatz“ der Operativen Psychologie, dessen Opfer er wurde. Was Girke im Auditorium als solide, wissenschaftliche Methode für ein nicht mehr anwesendes Publikum performt, hat Fuchs in der winzigen Kammer als Schlafentzug, Terror und Folter erlebt. Girke nennt Fuchs einen Freund. Schuldig fühle er sich trotzdem nicht.
Filmkritik von Karsten Munt
© Critic.de 13.11.2018