"AsozialesVerhalten"Stigmatisierung, Bevormundung und niedere InstinkteEin kleiner Fehler brachte Christel G. im Juli 1962 ins Visier der Stasi. Sie hatte einen Brief in den Westen falsch adressiert. Als er von der Bundespost zurückgeschickt wurde, fing ihn die Stasi ab und öffnete ihn. G. hatte an eine religiöse Sendung von Radio Luxemburg geschrieben und dort ihre materielle und seelische Not "in der sowj. Zone" beschrieben. Ihr Brief endet mit zwei Fragen: "Warum sind bei uns die Zuchthäuser voll? Und die Gotteshäuser leer?" Nach und nach werden immer mehr Briefe abgefangen. Dabei handele es sich, so die Stasi-Untersuchungsabteilung, um "Bettelbriefe mit verleumderischen Inhalt". Wenn man die Briefe irgendwie "offizialisieren" könnte, wäre auf dieser Grundlage "eine ernsthafte Auseinandersetzung" mit G. möglich.Um offiziell tätig werden zu können, ohne dabei die konspirativen Methoden der Stasi zu verraten, wäre eine normale Strafanzeige nötig. So begibt sich Leutnant Werner D. von der MfS-Kreisdienststelle (KD) Stralsund nach B., einem kleinen Dorf am Barther Bodden. Hier stößt er schnell auf offene Ohren und viele redselige Nachbarn. Familie G. gehört zu den schwierigen Fällen des Dorfes: Der Mann trinkt zuviel Alkohol, Ordnung und Reinlichkeit der Wohnung sind unterhalb des Ortsdurchschnitts, der älteste Sohn droht in der Schule zurück zu bleiben. Nach der Ehescheidung nehmen die Probleme für die Gemeinde noch zu, da jetzt akut eine Wohnung fehlt. Christel G. gilt im Dorf als faul: Obwohl sie LPG-Mitglied sei, habe sie kaum auf dem Feld gearbeitet, sie kümmere sich zu wenig um ihre Kinder, auch würden bei ihr fremde Männer ein- und ausgehen. Vor allem aber kommt Neid auf: Mehrmals wöchentlich erhalte G. Westpakete.
Fast alle beteiligen sich gegenüber der Stasi an der Verleumdung: Die Lehrerin des älteren Sohnes, der LPG-Vorsitzende, der Bürgermeister, die Dorfverkäuferin und die Postfrau. Bürgermeister und LPG-Vorsitzender wittern ihre Chance zur radikalen Problemlösung. Bereitwillig schreiben sie am 22. Januar 1963 eine Strafanzeige, die ihnen von Leutnant D. diktiert wird. Die Stasi braucht noch einen Monat Zeit für diverse Formalien, bevor am 27. Februar eine offizielle Festnahme und Wohnungsdurchsuchung stattfindet. Gleichzeitig werden die beiden sechs- bzw. achtjährigen Söhne von Christel G. in ein Kinderheim gebracht.In den Vernehmungen werden G. 45 "Bettelbriefe" zur Last gelegt und einige Westpakete. Tatsächlich hatte Christel G. in größerem Maße Briefe an allerlei von Radio Luxemburg benannte Adressen, aber auch an Dienststellen des Roten Kreuzes in der Bundesrepublik geschrieben und darin die Verhältnisse in der DDR genau mit solchen Schlagworten beschrieben, die sie im Westradio gehört hatte. Mit der Verwendung der im Westen erwarteten Klischees verband sie die Hoffnung auf materielle Zuwendung. An Belastungszeugen fehlt es nicht:
Neben den Dorfbewohnern sagen auch ihr geschiedener Mann und selbst ihre Mutter gegen sie aus.Dann geht alles ganz schnell: Einen Monat nach ihrer Festnahme fertigt die Stasi-Untersuchungsabteilung ihren Schlussbericht an, zwei Wochen später, am 16. April, erhebt der Bezirksstaatsanwalt in Rostock Anklage gegen Christel G. Am 9. Mai 1963 wird Christel G. schließlich vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock
"wegen fortgesetzter staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall (§ 19 Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 2 und 5 StEG)" zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Ausweislich ihrer Akte hat sie ihre Strafe bis zum letzten Tag verbüßt – sie wird am 27. Februar 1968 entlassen.
Als Oppositionelle wird man Christel G. sicher nicht bezeichnen können, politisches Strafrecht exekutierte man an ihr dennoch: Paragraph 19 des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG) vom 11. Dezember 1957 stellte "staatsgefährdende Propaganda und Hetze" unter Strafe und war eine klassische Norm politischer Strafjustiz in der DDR, bis 1968 das neue Strafgesetzbuch (StGB) in Kraft trat.2
Entscheidend für ihre überaus harte Verurteilung dürfte der Konsens gewesen sein, der zwischen den MfS-Interessen und den Bestrebungen der Gemeinde B. bestand. Anfangs hatte das MfS lediglich eine "ernsthafte Auseinandersetzung" mit ihr führen wollen und ein Ermittlungsverfahren ohne Haft erwogen. Doch Christel G. galt als "arbeitsscheues Element", wie es in den Vernehmungsprotokollen immer wieder heißt.
Alle offiziellen Stellen, die mit dem Fall befasst sind, begeben sich gleichsam auf die von Neid geprägte Klatsch- und Tratsch-Ebene. Die Lehrerin echauffiert sich, weil der älteste Sohn in der Schule mit Westgeschenken prahlt. Auch die Mitarbeiter des Stralsunder Jugendamtes, die im Scheidungsverfahren ein Jahr zuvor gar keine Einwände gegen Christel G. vorbrachten und sich für ihr Sorgerecht einsetzten, fühlen sich jetzt persönlich getäuscht, nachdem Christel G.s Söhne im Kinderheim ihren Widerstand damit ausdrückten, nur Lebensmittel aus dem Westen essen zu wollen. Und auch die beteiligten Stasi-Mitarbeiter fühlen sich bei der Brieflektüre offenbar persönlich beleidigt, da Christel G. nicht zögerte, allerlei Behauptungen, die sie keineswegs aus eigener Kenntnis aufstellen konnte, zur Schilderung ihrer Lage zu verwenden und damit – aus Sicht der Stasi-Ermittler – die DDR aufs schärfste verleumdete.
Das führt letztlich zum Rückgriff auf "gesundes Volksempfinden" als Maßstab der Rechtsanwendung. Professionelle Distanz zum Geschehen sucht man hier vergebens.http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... -60/06002/So einfach konnte also die Stasi eine Bürgerin für 5 Jahre ins Gefängnis bringen und ihre beiden Kinder in ein Heim geben. Auch zeigt dieses Beispiel wieder einmal, wie weit das Denunziantentum in der DDR verbreitet war.