“Meine Erinnerungen an den Aufstand des 17. Juni 1953″Im Dezember 1938 wurde ich in der Grenzmark Posen-Westpreußen (ehemalige deutsche Ostgebiete, heute Polen) geboren. Mein Vater wurde bei unserem Fluchtversuch mit einem Pferdewagen im April 1945 gefangen genommen und verstarb wenige Wochen später in einem sowjetischen Internierungslager. Im Juli 1945 mussten wir endgültig unsere Heimat verlassen (Vertreibung). Zu Fuß, mit einem Handwagen, auf dem meine, an beiden Beinen verwundete, Großmutter und meine zweijährige Schwester saßen, erreichten wir nach ca. 120 km Fußweg im November 1945 Ost-Berlin. Und hier erlebte ich am 17. Juni 1953 den Volksaufstand in der DDR.
Am Nachmittag des 16. Juni 1953 kam es zu einer spontanen Arbeitsniederlegung der Bauarbeiter in der Stalinallee. Unmittelbarer Anlass war neben der allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Unzufriedenheit die Erhöhung der Arbeitsnormen zum 20. Juni 1953, dem sechzigsten Geburtstag von Walter Ulbricht. In Diskussionen wurde von den Arbeitern der Beschluss gefasst, für den 17. Juni 1953 zum Generalstreik in der gesamten DDR aufzurufen.
In den DDR-Medien hieß es am Abend des 16. Juni, westdeutsche “Agenten und Saboteure” wollten Unruhe in der DDR-Bevölkerung provozieren. In den westlichen Medien wurde von einem Volksaufstand berichtet, zu dem die Bauarbeiter für den folgenden Tag in der gesamten DDR aufgerufen hätten. Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Bevölkerung der DDR.
Den 17. Juni 1953 erlebte ich als Vierzehnjähriger. Ich hatte mich mit einem Schulfreund verabredet. Gegen 8 Uhr trafen wir uns vor unserer Haustür in der Greifswalder Straße. Wir schlossen uns einem Demonstrationszug an, der sich, aus Weißensee kommend, in Richtung Innenstadt bewegte.Aus den Fenstern einer Schuhfabrik wurde der Demonstrationszug von vielen Frauen beobachtet. Sie riefen, ihre Betriebsleitung hätte die Eingangstüren und – tore verschlossen. Demonstranten brachen daraufhin die Türen auf, und viele der Arbeiterinnen schlossen sich dem Demonstrationszug an. Der Zug wurde immer größer, je näher wir der Innenstadt kamen.
An der Ecke Dimitroffstraße kreuzte eine Straßenbahn. Arbeiter aus dem Demonstrationszug entwendeten dem Fahrer die damals noch für das manuelle Umstellen der Weichen erforderliche Stahlstange und forderten das Fahrpersonal und die Fahrgäste auf, sich dem Zug anzuschließen.
Der Demonstrationszug passierte den Rosentaler Platz. Dort befand sich das Parteigebäude der SED. Die gläserne Front der Eingangstüren war durch herabgelassene Stahlgitter versperrt. Hinter den Gardinen der Fenster sah man vereinzelt verängstigte Gesichter auf die Straße blicken. Auf der Straße herrschte eine emotional aufgeladene Stimmung. Ein Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte, machte seiner Wut Luft, stieß mit seinen Krücken durch die Stahlgitter und zerstörte die Glastüren. Andere rüttelten an den Stahlgittern.
Am späten Vormittag erreichten wir den Marx-Engels-Platz (ehemaliger Schlossplatz) – ein großer Platz, auf dem an besonderen Feiertagen (1, Mai, 7. Oktober als Gründungstag der DDR etc.) die Bevölkerung an einer großen Holztribüne vorbeiziehen musste, auf der sich die Regierungs- und Politbüromitglieder der SED feiern ließen. Der Platz war gefüllt mit Tausenden von Menschen. Großer Jubel brach aus, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, die Arbeiter des Stahlwerks Henningsdorf (DDR) würden über den kürzeren Weg durch West-Berlin bald durch das Brandenburger Tor kommen.
Plötzlich war ein lautes Brummen von Motoren zu hören, das immer stärker wurde. Und dann bog ein sowjetischer Panzer mit blauen Auspuffwolken um die Ecke, dem weitere folgten – eine gespenstische Szene. Die Arbeiter versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Meinem Freund und mir gelang es, die Holztribüne zu erreichen. Natürlich hatten wir große Angst und versuchten, schnellstmöglich nach Hause zu kommen.
Der Heimweg führte uns am Polizeipräsidium in der Königsstraße vorbei. Viele aufgebrachte Menschen standen vor dem Präsidium, die ihrem Unmut in Sprechchören Ausdruck gaben. Es war kein Durchkommen möglich. Plötzlich hörten wir laute Knallgeräusche. Waren es Schüsse aus Feuerwaffen? Wir flüchteten mit Anderen zusammen in einen Hausflur. Nachdem sich die Situation beruhigt hatte und wir wieder auf die Straße traten, sahen wir brennende Polizeifahrzeuge vor dem Polizeipräsidium. Wahrscheinlich waren die Ursache der Geräusche die explodierenden Autoreifen.
Auf dem Heimweg, es war gegen 14 Uhr, sahen wir dann an allen Litfaßsäulen frisch geklebte Plakate: Der Ausnahmezustand war in Ost-Berlin verhängt worden! Damit war ab sofort verboten, dass sich Gruppen von mehr als 3 Personen auf öffentlichen Straßen zusammenfinden. Weiterhin war jeglicher Fußgänger- und Kraftfahrzeugverkehr von 21 Uhr bis 5 Uhr morgens auf Straßen und Plätzen verboten. Und weiter hieß es: “Diejenigen, die gegen den Befehl verstoßen, werden nach den Kriegsgesetzen bestraft.” Unterzeichnet war dieser Befehl vom “Militärkommandant des Sowjetischen Sektors von Berlin, Generalmajor Dibrowa”.
Zu Hause angekommen warteten alle auf den Abend. Was wird passieren? Kurz nach 21 Uhr kamen weitere sowjetische Panzer und viele Mannschaftswagen mit sowjetischen Soldaten und Kriegsgerät in Richtung Innenstadt.
Am folgenden Tag waren alle großen Strassenkreuzungen und Plätze mit Panzern und/oder Mannschaftswagen besetzt. Sowjetische Soldaten saßen auf oder vor ihren Fahrzeugen. Sie hatten dort die Nacht zugebracht und wurden von ihren Kameraden verpflegt. Rauch stieg aus den Schornsteinrohren der Feldküchen. Der öffentliche Verkehr war zum Erliegen gekommen, und die Grenzen nach West-Berlin waren geschlossen. Nach ca. 10 Tagen wurde der Ausnahmezustand aufgehoben und die sowjetischen Soldaten wurden abgezogen. Die DDR- Regierung übernahm wieder die Staatsgewalt.
In den DDR-Medien wurde der Volksaufstand des 17. Juni 1953 als “konterrevolutionärer Putschversuch” deklariert. Die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen hätten durch ihr “entschlossenes Eingreifen” die “Absichten des Imperialismus” durchkreuzt. Die Mehrheit der “irregeleiteten” Werktätigen habe sich bald von den Putschisten abgewandt und begann zu erkennen, dass sie gegen ihre eigenen Interessen gehandelt habe.
Im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni wurden in den folgenden Wochen mehrere tausend DDR-Bürger verhaftet und zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. 22 Todesurteile wurden vollstreckt. Die “öffentliche Ordnung” war wieder hergestellt.
Damit endet “Meine Erinnerungen an den des 17. Juni 1953″ von Joachim Rudolph.
An dieser Stelle noch einmal großen Dank an ihn und seinen Bericht über den Aufstand des 17. Juni 1953.
http://zeitzeugenberlin.de/2011/09/06/z ... 3-teil-12/