von andr.k » 30. April 2016, 14:16
Aus den Akten
Michael Gartenschläger war in der DDR aufgewachsen und von dort nach Verbüßung von fast zehn Jahren Haft wegen „Diversion im schweren Fall, staatsgefährdender Gewaltakte und staatsgefährdender Propaganda und Hetze im schweren Fall“ 1971 in die Bundesrepublik entlassen worden. Die DDR setzte zur Erhöhung der Wirksamkeit ihrer Grenzsicherungen ab dem Jahre 1972 an der innerdeutschen Grenze Selbstschussautomaten mit Splitterminen ein. Ein Artikel des Magazins „Der Spiegel“ brachte den früheren DDR-Bürger Michael Gartenschläger 1975 auf die Idee, eine solche Anlage zu beschaffen, um sie der Öffentlichkeit zu präsentieren und damit die DDR bloßzustellen.
In einer Nacht Ende März 1976 baute er heimlich einen Selbstschussautomaten ab und verkaufte ihn anschließend für 12.000 DM an den „Spiegel“. Ende April 1976 beschaffte er aus dem gleichen Grenzabschnitt ein weiteres Gerät, das er für 3.000 DM an die „Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V.“ verkaufte. Diese Vorfälle sorgten sowohl im Ministerium für Verteidigung als auch im Ministerium für Staatssicherheit der DDR für große Unruhe. Erich Mielke wies die HA I an, „diesen Täter bei einem erneuten Angriff auf diese Anlage unbedingt festzunehmen“.
Der Leiter der HA I, Karl Kleinjung, entschied, eine „Einsatzkompanie“ einzusetzen. Die Einsatzkompanie unterstand der Abteilung „Äußere Abwehr“ der HA I des MfS, war aber nach außen hin eine selbständige Einheit der Grenztruppen der DDR, die für überörtliche Aufgaben im Rahmen der Grenzsicherung zuständig war. Ihr Personal setzte sich aus operativen Mitarbeitern des MfS sowie aus längerdienenden Soldaten der Grenztruppen zusammen. Der Maßnahmeplan wurde von dem Chef der Einsatzkompanie, Wolfgang S., ausgearbeitet, von dem Leiter der Abteilung Äußere Abwehr, Helmut H., unterzeichnet und von Karl Kleinjung bestätigt. Er sah unter anderem vor, daß zur Verhinderung weiterer Angriffe der oder die Täter „festzunehmen beziehungsweise zu vernichten“ seien. Auf bundesdeutscher Seite forderte gleichzeitig die StA Lübeck nach Hinweisen durch den Bundesgrenzschutz Gartenschläger auf, seine Aktivitäten an der Grenze zu unterlassen.
Die Beschaffung eines dritten Automaten plante Gartenschläger für die Nacht zum 1. Mai 1976. Er hatte vor, diesen vor der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn aufzustellen. Damit wollte er die Freilassung des in der DDR inhaftierten Bruders seiner Freundin und eines Fluchthelfers sowie die Zahlung von 15.000 DM an diese beiden Personen erreichen. 500 In der Nacht vom 30.4. auf den 1.5.1976 waren Angehörige der Einsatzkompanie in dem betreffenden Grenzabschnitt postiert. Zusammen mit zwei Begleitern traf Gartenschläger gegen 22.00 Uhr im Grenzgebiet ein. Alle drei führten Schusswaffen mit sich. Nachdem Gartenschläger sein Vorhaben gegen 23.30 Uhr auf Anraten der Begleiter zunächst aufgegeben hatte, weil sie in unmittelbarer Nähe der Grenzanlagen Geräusche gehört hatten, entschloss er sich dann dazu, einen Selbstschussautomaten wenigstens auszulösen.
Erst als er zu diesem Zweck die Grenzlinie überquert und sich dem auf DDR-Gebiet befindlichen Metallgitterzaun bis auf wenige Meter genähert hatte, wurde er von einem Mitglied der Einsatzkompanie wahrgenommen. Als der Soldat daraufhin seine Pistole zog, entstand ein metallisches Geräusch. Kurz darauf kam es zu einem Schusswechsel, im Verlaufe dessen er und mehrere andere Soldaten Schüsse abgaben. Gartenschläger wurde von insgesamt neun Schüssen getroffen und erlag kurze Zeit darauf seinen Verletzungen. Der Tod Gartenschlägers wurde im Totenschein später für 23.45 Uhr vermerkt. Am nächsten Tag wurde gegen den bereits Verstorbenen noch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen „bewaffneter Grenzprovokation mit terroristischem Anschlag auf Angehörige der Grenzsicherungskräfte der DDR“ eingeleitet; kurz darauf wurde er beigesetzt. Die an dem Einsatz der Einsatzkompanie beteiligten Kräfte wurden mit dem „Kampforden in Silber“ ausgezeichnet, den sie jedoch nicht tragen durften.
Die Ermittlungen wegen der Tötung Gartenschlägers wurden zunächst allein von der StA II Berlin durchgeführt.
Das Verfahren gegen die unmittelbar handelnden Beschuldigten wurde abgetrennt und an die StA Schwerin abgegeben. Diese erhob dann Anklage wegen gemeinschaftlich begangenen Mordversuchs. Die Anklage griff allein auf den Strafanspruch aus dem StGB zurück, das auf die auf dem Territorium der DDR und damit nach dem funktionellen Inlandsbegriff im „Ausland“ begangene Tat gemäß § 7 Absatz 1 anwendbar war. Die Anklage beschränkte sich auf eine Versuchstat, weil ein rechtsmedizinisches Gutachten der Freien Universität Berlin aus dem Jahr 1993 zu dem Ergebnis gekommen war, dass Gartenschläger bereits durch die erste Schussfolge tödlich getroffen worden sei. Diese erste Schussfolge sei aber wegen Notwehr gemäß § 32 StGB oder zumindest Putativnotwehr gemäß §§ 32, 16 StGB nicht strafbar.
In der Abgabe weiterer Schüsse danach wurde deshalb nur noch ein Mordversuch gesehen. Das Verfahren gegen einen weiteren Soldaten, dem aufgrund der Ermittlungen die Beteiligung allein an der ersten Schlussfolge hatte nachgewiesen werden können, war gemäß § 170 Absatz 2 StPO eingestellt worden. Die Qualifikation der Tat als Mordversuch wurde mit dem Vorliegen eines „sonstigen niedrigen Beweggrundes“ begründet. Die Soldaten hätten den schwer getroffen am Boden liegenden Gartenschläger, von dem erkennbar keine Gefahr mehr ausgegangen sei, gleichsam hinrichten und sich dadurch willkürlich zum Herren über Leben und Tod aufschwingen wollen, was das genannte Mordmerkmal verwirkliche.
Alle drei Angeklagten wurden freigesprochen, weil sich der genaue Tathergang nicht rekonstruieren ließ. Hinsichtlich einer ersten Schussfolge ging auch das Gericht von Notwehr oder Putativnotwehr aus. Es sei zwar nicht mit Sicherheit festzustellen, dass Gartenschläger als erster geschossen habe; für einen solchen Tathergang spreche aber die größere Wahrscheinlichkeit. Wegen der danach abgegebenen Schüsse konnte der Nachweis nicht erbracht werden, dass diese Gartenschläger gegolten hatten. Die auch die Qualifikation der Tat als Mord begründende Darstellung der Staatsanwaltschaft, wonach die Angeklagten auf Gartenschläger geschossen hätten, als sich die Situation bereits geklärt habe, fand keine Bestätigung in der gerichtlichen Beweisaufnahme.
Eine zweite Anklage der StA II Berlin betraf die Strafbarkeit der drei für die Planung des Anschlags verantwortlichen MfS-Offiziere. Ihnen wurde keine versuchte, sondern eine vollendete Tat in mittelbarer Täterschaft vorgeworfen. Obwohl die unmittelbar handelnden Soldaten selbst rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hätten, habe hier dennoch täterschaftliches Handeln vorgelegen. Verwirklicht sei die Ausnahmekonstellation, dass der Hintermann für seine Tat eine bestehende Organisation – das MfS mit seiner militärisch-hierarchischen Struktur – ausnutze, um regelhafte Abläufe durch seinen Tatbeitrag auszulösen. Wer sich in einem solchen Fall die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden zur Tatbestandserfüllung zunutze mache und den Erfolg als Ergebnis eigenen Tuns ansehe, sei mittelbarer Täter.
Der Tod Gartenschlägers sei den drei Angeklagten auch zuzurechnen, weshalb jeweils vollendete Taten vorlägen. Während für die Beurteilung des Verhaltens der Soldaten der Einsatzkompanie die Unterscheidung zwischen der ersten und der zweiten Schussfolge wesentlich sei, komme es darauf für die Hinterleute nicht an. Aus ihrer Sicht handele es sich um keine wesentlichen Abweichungen vom geplanten Tatverlauf. Ihr Plan sei von vorneherein auf die Tötung Gartenschlägers durch Erschießen an der Grenze gerichtet gewesen. Ein Handeln mit Mordvorsatz sei ihnen aber nicht nachzuweisen, so dass ihre Tat als gemeinschaftlicher Totschlag in mittelbarer Täterschaft zu werten sei.
Gemäß § 7 Absatz 1 StGB hätten alle drei grundsätzlich allein nach den Vorschriften des StGB verfolgt werden können. Im Falle von Wolfgang H. und Helmut S. stand dem aber die inzwischen eingetretene Verjährung entgegen. Da Totschlag gemäß § 78 Absatz 3 Ziffer 2 StGB einer zwanzigjährigen Verjährungsfrist unterliegt und die Tathandlungen Ende April 1976 vorgenommen worden waren, hätte eine Unterbrechung der Verjährung durch eine entsprechende Maßnahme nur bis Ende April 1996 ausgelöst werden können. Tatsächlich erfolgte die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens, durch die gemäß § 78 c Absatz 1 Ziffer 1 StGB die Verjährung unterbrochen wird, gegenüber Wolfgang H. und Helmut S. aber erst am 8.7.1996.
Eine Strafverfolgung allein auf der Grundlage des StGB in Verbindung mit Artikel 315 Absatz 4 EGStGB kam daher nur noch bei Karl Kleinjung in Frage, demgegenüber die entsprechende Mitteilung bereits im Juli 1995 erfolgt war. Deshalb stützte die Staatsanwaltschaft die Anklage auch auf einen übergeleiteten Strafanspruch aus dem StGB-DDR. Sie führte aus, dass alle drei gemäß § 22 Absatz 2 Ziffer 1 StGB-DDR Anstifter zum vollendeten Totschlag gewesen seien. Anders als nach dem StGB scheide mittelbare Täterschaft nach dem StGB-DDR aus, wenn die unmittelbar Handelnden selber strafrechtlich voll verantwortlich gewesen seien. Hingegen sei auch gemäß dem StGB-DDR die eingetretene Abweichung des tatsächlichen von dem zuvor vorgestellten Kausalverlauf für die Verantwortlichkeit der Angeklagten unerheblich.
Man lebt ruhiger, wenn man nicht alles sagt, was man weiß, nicht alles glaubt, was man hört und über den Rest einfach nur lächelt.