von pentium » 9. Oktober 2024, 18:42
Aus einem Beitrag aus BAHN EXTRA 03/09, Seite 20
Wobei es nicht nur um die Ausreise aus Prag geht, auch Warschau wird kurz behandelt.
Mauerfall: Züge in die Freiheit
Die DDR-Führung bestand dabei auf einer offiziellen »Ausbürgerung«, indem die Züge über DDR-Gebiet fuhren. Viele der in Prag wartenden Flüchtlinge hatten Bedenken und glaubten an eine Falle. Erst als Genscher zusicherte, dass jeden Eisenbahnwagen zwei Beamte des Auswärtigen Amtes begleiten, beruhigte sich die Stimmung. Als Laufweg sah man die Strecke von Bad Schandau über Karl-Marx-Stadt, Plauen (Vogtl) und Gutenfürst vor: 253,7 Kilometer DDR-Gebiet.
Die Vorbereitungen waren bereits getroffen. Am 26. September 1989 – drei Tage vor der Einigung von Bundesregierung und DDR-Führung auf die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge! – wurde das Bahnbetriebswagenwerk Zwickau angewiesen, einen Wagenzug für Sonderverkehrsleistungen vom Abstellort Plauen oberer Bahnhof nach Zwickau zu überführen. Mit einem zweiten Fernschreiben am gleichen Tag wurden dem Betriebswerk Reichenbach der Fahrplan und die Lokbespannung von Plauen nach Zwickau übermittelt.
Die erste Ausreisewelle
Mit Bussen wurden die Botschaftsflüchtlinge noch am 30. September 1989 zum Bahnhof Praha-Liben gefahren, wo die Sonderzüge bereitstanden. Gegen 20:50 Uhr setzte sich mit Sr (= Sonderreisezug) 23360 der erste von sechs Zügen in Bewegung. Wie alle Flüchtlingszüge bestand er aus zehn zweifarbigen Wagen 1. bzw. 2. Klasse (Gattungen Am, Bm, Bmh). In Bad Schandau übernahm eine Elektrolok der DR-Baureihe 250 die Leistung; ab Reichenbach bespannte eine Diesellok der DR-Baureihe 132 den Zug bis Hof an der Saale. Die Lokomotiven stellte – wie bei allen 14 Flüchtlingszügen der ersten beiden Ausreisewellen – das Bw Reichenbach. Im Bahnhof Dresden-Reick war ein Wechsel des Ellok-Personals vorgesehen. Sr 23360 musste im Dresdener Hauptbahnhof sogar halten, ebenso der nächste Zug reichlich zwei Stunden später. Das hatte Konsequenzen: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich, dass die Flüchtlingszüge über DDR-Gebiet fuhren. Tatsächlich gelang es drei Personen, auf den zweiten Zug in die Freiheit aufzuspringen.
In der Hoffnung, es diesen gleich zu tun, versammelten sich vor allem auf dem Dresdner Hauptbahnhof viele weitere Menschen. Doch nun gingen die Verantwortlichen rigoros vor: Um 05:00 Uhr lag der Befehl des Innenministers zur verstärkten Streckensicherung vor. Die folgenden Züge durften auf keinem Bahnhof halten und mussten zügig durchfahren. Die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) belegen am 1. Oktober 1989 »keine weiteren Fluchtversuche oder Spontanhandlungen der Bevölkerung«.
Kontrollen an der Strecke und auf der Lokomotive
Bei der Reichsbahn besetzte die Transportpolizei alle betreffenden Stellwerke, damit von Fahrdienstleitern und Stellwerksmeistern auch wirklich freie Fahrt gewährt wurde. An Bahnübergängen patrouillierte die Verkehrspolizei, damit kein Kraftfahrer sein Auto auf den Schienen stoppen und einen Zug zum Halt zwingen konnte. Die betreffenden Strecken wurden kontrolliert, um Zwischenfälle jeder Art – nicht nur das Bereiten von Hindernissen, sondern ebenso Sitzstreiks – auszuschließen. Transportpolizei, aber auch Nationale Volksarmee (NVA), Bereitschaftspolizei und Kampfgruppen sicherten jetzt die Strecken, besonders Brücken und Langsamfahrstellen.
Für die Organisation und Durchführung des Sonderreiseverkehrs aus Prag hatte man im Dresdner Direktionsgebäude in der Ammonstraße 8 eigens einen »operativen Stab« eingerichtet. Er bestimmte auch, dass die Lokomotiven der Sonderzüge mit einem zweiten Mann, bevorzugt einem Triebfahrzeuginstrukteur aus den Bahnbetriebswerken bzw. der Direktion, besetzt sein mussten, um durchzusetzen, dass keiner der Sonderreisezüge auf dem Streckennetz der DR außerplanmäßig zum Halten kam. Die Dienststellenleiter hatten bereits im Vorfeld auf Anweisung der politischen Leitung der DR und der Staatssicherheit in ihren Tresoren streng vertrauliche Namenslisten von Mitarbeitern (Lokführer und Zugführer), welche für diese Sonderzüge eingesetzt wurden.
Der erste der sechs Flüchtlingszüge traf am Morgen des 1. Oktober 1989 um 06:14 Uhr in der Freiheit auf dem bayerischen Bahnhof Hof (Saale) ein. Selbst diesem Zug in »Feindesland« hatte das MfS einen Informellen Mitarbeiter Sicherheit (IMS) namens »Frieder Schwarz« beigestellt. Er stammte aus den Reihen der Eisenbahner, fuhr auf dem Führerstand der Lokomotive nach Bayern mit und erstattete nach der Rückkehr Bericht.
Wie Sr 23360 nahmen die weiteren fünf Flüchtlingszüge dieser ersten Ausreisewelle den Weg über Bad Schandau – Dresden – Plauen nach Hof. Sie kamen im Laufe des 1. Oktober 1989 in Hof an. Alle Züge brachten – nach Angaben des Einsatzstabes des Grenzschutzkommandos Süd – 5.490 Flüchtlinge aus der DDR mit (nach anderer Quelle: 5.273). Hilfskräfte des Bayerischen Roten Kreuzes, des Technischen Hilfswerks und der Bahnhofsmission hatten seit Mitternacht die Hofer Bahnsteige in große Verpflegungsstationen verwandelt. Die Flüchtlinge wurden versorgt und auf Aufnahmelager bzw. zu Unterkünften umfunktionierte Kasernen in Bayern und Hessen verteilt.
Die zweite Ausreisewelle
Die Bereitstellung der nächsten Züge in Prag verzögerte sich um einige Tage. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober 1989, zwischen 18:34 und 01:35 Uhr, verließen dann weitere acht Züge die Hauptstadt der Tschechoslowakei.
Noch mehr als bei der ersten Ausreisewelle versuchten Bürger in der DDR, auf die Züge aufzuspringen. Die Flüchtlinge in spe stammten aus allen Bezirken außer Rostock und Suhl – so die Feststellungen der Staatssicherheit. Wie die Staatssicherheit die Fluchtversuche einschätzte, zeigt ein Fernschreiben, das Oberst Bohl der MfS-Bezirksverwaltung Dresden an die Zentrale schickte: »Seit 03. 10. 1989 kam es im und um den Hauptbahnhof Dresden zur Zusammenrottung von Ausreisewilligen und Asozialen in Erwartung der von Prag kommenden Züge mit den auszusiedelnden Botschaftsbesetzern. Offenbar befanden sich unter diesen Personen auch konterrevolutionäre Elemente, die provozierend und brutal auftraten. Weit über 2.000 Personen traten zunehmend als aktiv handelnder Kern auf. In den späten Abendstunden des 04. 10. 1989 befanden sich im Bahnhofsgebäude ca. 5.000 Personen und um den Bahnhof weit über 10.000.«
Die ersten drei Sonderzüge aus Prag waren zur Zeit der »Krawalle« in Dresden bereits in Bad Schandau eingetroffen. Das MfS ließ sie nicht weiterfahren, bis mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte, dass Ausreisewillige Bahnanlagen besetzt halten. In einigen Fällen hatten Leute versucht, durch Blockieren der Gleise die Züge zum Halten zu bringen – zum Teil sogar, indem sie sich ins Gleis stellten. Es ist jedoch keine Situation bekannt, in der die Fluchtwilligen gegen Eisenbahner oder Polizisten tätlich vorgingen. Die Hoffnung, einen Platz in (oder auf) dem Zug zu bekommen, erfüllte sich gleichwohl nicht. Die Lokführer wurden mit schriftlichem Befehl angewiesen, an einigen Stellen schneller zu fahren als per Vorschrift zugelassen. Zudem lösten die »Einsatzkräfte« die so genannten Zusammenrottungen an den möglichen »Fluchtpunkten« durchweg auf.
In der Folge zeigten die Fluchtversuche Wirkung. Nach den ersten drei Zügen reduzierte man den Laufweg durch die DDR. Die restlichen fünf Züge am 4./5. Oktober 1989 nahmen den nur 94,6 Kilometer langen Weg von Bad Brambach über Plauen (Vogtl) nach Gutenfürst.
Sie verließen Praha-Liben zwischen 19:28 Uhr am 4. Oktober und 01:35 Uhr am Morgen des 5. Oktober. Der DDR-Grenzbahnhof Gutenfürst wurde am 5. Oktober 1989 zwischen 05:49 Uhr und 10:48 Uhr (nach anderer Quelle: 05:27 Uhr und 09:53 Uhr) Richtung Hof passiert. Insgesamt 6.242 Personen (nach anderen Quellen: 7.607 oder 8.270) kamen mit dieser zweiten Ausreisewelle in den Westen.
So jetzt haben wir etwas Klarheit....Ich habe den Text noch mal hervorgeholt.