In Bonn sprangen die Zeiger auf null Uhr. Der 3. Oktober 1990 begann - der Tag, an dem die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik, des zweiten deutschen Staates, nach fast 41 Jahren zu Ende war. In Bonn sprangen die Zeiger auf null Uhr. Die DDR unterhielt diplomatische Beziehungen zu 137 Staaten und Organisationen - genauso viel wie die westdeutsche Republik.
Um 19 Uhr Eastern Standard Time war die Übergabe zu Ende. Dann hatten in der amerikanischen Hauptstadt Washington D.C. eine Residenz, ein Kanzleigebäude, ein Appartementkomplex sowie ein unbebautes Grundstück den Besitzer gewechselt.
Überall in der Welt holten Vertreter des sterbenden Staatswesens ihre Flagge mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz nieder und übergaben die Schlüssel der von ihnen genutzten Gebäude den neuen Herren: ihren Kollegen vom Bonner Auswärtigen Amt.
Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, dem der SED-Mann Oskar Fischer 15 Jahre vorstand und dessen elfgeschossige Zentrale an der Westseite des Ost-Berliner Marx-Engels-Platzes, ging ebenfalls in AA-Besitz über.
Mit dem Glockenschlag zwölf kassierte die Behörde des Freidemokraten Hans-Dietrich Genscher rund um den Globus ein riesiges Immobilienerbe, dessen materieller Wert immer noch nicht genau beziffert werden kann. Es geht um Werte in Milliardenhöhe. »Jetzt sind wir wirklich Großgrundbesitzer«, kommentierte ein Diplomat, »das war eine große Bereicherung.«
In die Hände der Bonner fielen über Nacht 2003 Dienstwohnungen, 72 Botschafterresidenzen, 118 Kanzleien, 33 Kindergärten und Schulen, 8 Freizeiteinrichtungen und 6 unbebaute Grundstücke, insgesamt 2240 Objekte, von denen 1140 freilich nur angemietet waren. Der vom Auswärtigen Amt verwaltete Liegenschaftsbestand kletterte von 1225 auf nun 2325 Immobilien.
Zahlreiche Gebäude und Wohnungen sollen nun gewinnbringend losgeschlagen werden, Mietverträge wurden umgehend gekündigt.
Experten der Bundesbaudirektion in derzeit 70 Ländern waren damit beschäftigt, Gutachten über den Wert der zum Verkauf ausgewählten Objekte anzufertigen.
In der restlichen Erbmasse finden sich interessante Kuriositäten. So ist Bonn nun Eigentümer eines umfangreichen Gebäudekomplexes in einem Staat, zu dem es keinerlei diplomatische Beziehungen unterhält: In Pjöngjang, der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Korea, hatte sich die DDR einen großen Compound zugelegt. Dem Land des kommunistischen Diktators Kim Il Sung fühlte sich das Honecker-Regime besonders verbunden.
Die DDR hinterließ edle Immobilien in feinsten kapitalistischen Lagen. So residierte der DDR-Botschafter im Vereinigten Königreich an einem der vornehmsten Plätze Londons, dem Belgrave Square in Knightsbridge mit der Prestigeadresse SW1.
Seine Mission bei den Vereinten Nationen hatte der SED-Staat in einem der teuersten Viertel New Yorks angesiedelt: Ecke Park Avenue und 38. Straße, nicht weit vom Uno-Hauptquartier am East River. In der holzgetäfelten zweistöckigen Lobby mit Bibliothek fanden bei Empfängen mühelos bis zu 300 Gäste Platz. Die Bonner Kollegen konnten dagegen höchstens 100 beherbergen.
Daneben gehörte der DDR ein schönes Parkgelände im vornehmen New Yorker Wohnviertel Westchester, darauf eine Villa als Residenz des Botschafters und ein Haus mit mehreren Wohnungen, dazwischen ein Swimmingpool. Die Bonner fanden in der verlassenen DDR-Kanzlei an der Massachusetts Avenue in Washington D. C. noch erhebliche Spirituosenbestände vor, darunter schottischen Whisky der Edelmarke Chivas Regal.
Den bei weitem dicksten Brocken hinterließen die Ost-Diplomaten ihren Konkurrenten vom Rhein an der Moskwa. Botschaft und Kanzlei am Lenin-Prospekt und ein halber Stadtteil mit vier Wohntürmen zu je 16 Etagen, ein hotelähnlich geführtes 90-Betten-Haus, Garagen, Kindergarten und Schule im Südwesten der Stadt. Den Wert des Moskauer Erbes allein schätzen Bonner Experten auf 200 bis 250 Millionen Mark.
Zur großen Erleichterung der bundesdeutschen Diplomaten hinterließen die Kollegen des moribunden Staates kaum Papiere oder Dokumente, die mühsam gesichtet oder gar archiviert werden mußten. Auf Weisung des Ost-Ministeriums wurden alle Akten vernichtet, wochenlang qualmten in den Botschaften die Spezial-Verbrennungsöfen.
https://www.spiegel.de/politik/grosse-b ... 0013489953
AZ








