Stalinrasen gegen Flucht durch U-Bahn-SchächteQuelle: Polizeihistorische Sammlung
Nach dem Bau der Berliner Mauer eröffneten die Geisterbahnhöfe der U-Bahnen manche Flucht. Historiker rekonstruieren, mit welchen Tricks die DDR-Grenzer diese Lücken zu schließen suchten. Oberirdisch wurde scharf geschossen, unterirdisch hatten U-Bahnen fast freie Fahrt: So etwas gab es nur im geteilten Berlin des Kalten Krieges.
Obwohl DDR-Grenzer die innerstädtische Sektorengrenze am 13. August 1961 geschlossen und seither die Sperranlagen immer stärker ausgebaut hatten, durften die Züge der BVG-Linien U6 (bis 1966 Linie C) und U8 (ehemals Linie D) sowie die S-Bahn im Nord-Süd-Tunnel unter Mitte hindurchfahren.
Nur gehalten wurde nicht mehr, mit Ausnahme des Bahnhofs Friedrichstraße. Die übrigen 15 Stationen der drei Linien auf Ost-Berliner Territorium wurden zu Geisterbahnhöfen, zu denen nur noch Grenzposten und Stasi-Mitarbeiter Zutritt hatten – oder aber Bauarbeiter unter bewaffneter Bewachung.Die Historiker Gerhard Sälter und Tina Schaller behandeln jetzt die Geschichte dieser Bahnhöfe in einem reich bebilderten Band („Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin“). Grundlage des sehr lesenswerten Buches ist die gleichnamige Ausstellung, die im Zwischengeschoss des früheren Grenzstation Nordbahnhof zu sehen ist.
Perfide „Flächensperren“ durchbohrten die Füße
Das SED-Regime trieb ungeheuren Aufwand, um die aus politischen Gründen weiterhin geöffneten Tunnel für potenzielle Flüchtlinge unzugänglich zu machen. Natürlich waren schon seit dem Mauerbau die Zugänge zu den Stationen mit Gittertoren verschlossen, wurden bald Wachstände für Grenzer eingebaut, die über Beobachtungsluken und Schießscharten verfügten.
Verschiedene Alarmanlagen wurden eingebaut, außerdem die lebensgefährlichen „GV-Matratzen“ (die Abkürzung stand für „Grenzverletzer“), besser bekannt unter dem Namen „Stalinrasen“. Diese „Flächensperren“ bestanden aus dicken Metallarmierungen, auf die zehn Zentimeter hohe, spitze Dornen geschweißt waren.
Wer auf eine solche „Flächensperre“ sprang, dessen Füße wurden unweigerlich durchbohrt. Nicht einmal langsam und vorsichtig konnte man darüber laufen, weil keine Schuhsohle den Metallspitzen lange widerstand.
Trotzdem kam es immer wieder zu Fluchtversuchen, ja sogar gelungenen Fluchten durch die Tunnel der Geisterlinien. Zum Beispiel am Bahnhof Heinrich-Heine-Straße auf der Linie D nördlich von Kreuzberg. Bald nach Mitternacht des 13. Februar 1963 waren im Tunnel zur nächsten Station in West-Berlin, natürlich unter schwerer Bewachung, insgesamt 28 Ost-Berliner mit Gleisbauarbeiten beschäftigt.
Erwin R. nutzte seine ChanceSobald der reguläre U-Bahnverkehr fahrplanmäßig eingestellt worden war, wurden mit Stacheldraht versehene Holzgestänge, „Spanische Reiter“ genannt, auf beiden Gleisen aufgestellt. Vier Grenzsoldaten und ein Feldwebel als Zugführer nahmen Positionen im mittleren Teil des Tunnels ein, dem Freiraum zwischen den beiden Gleisen.
Der Gleisarbeiter Erwin R. wusste, dass er eine vergleichbare Chance wohl nicht wieder bekommen würde. Unauffällig rückte er immer weiter vor in Richtung Grenzmarkierung. Als dann sogar drei der fünf Wachen ihren Posten verließen, um etwas essen zu gehen, nutzte er die Gelegenheit: Mit einem großen Satz sprang er über die unterirdische Grenze in den West-Berliner Teil des Tunnels, wo wie oft bei ähnlichen Arbeiten zwei West-Berliner Bereitschaftspolizisten Dienst schoben.
Zwar versuchten die beiden übertölpelten DDR-Wachposten sofort, den Arbeiter wieder einzufangen, doch das misslang. Die gelungene Flucht hatte bald Konsequenzen: Schon zwei Tage später begannen Ost-Berliner Handwerker, den Mittelgang zwischen den beiden Gleisen zuzumauern – bis auf eine Beobachtungs- und Schießscharte.Die unterirdische Mauer fiel erst 1990
In dem Bildband sind Fotos der West-Berliner Polizei abgebildet, die diese Konsequenzen aus der gelungenen Flucht dokumentieren. Dieser unterirdische Teil der Mauer fiel erst 1990.
Der Tunnel südlich der Station Heinrich-Heine-Straße war weiterhin ein Brennpunkt. Im Juni 1963 setzte sich der gesamte eingeteilte Posten aus einem Unteroffizier und zwei gewöhnlichen Soldaten im Abstand von einer halben Stunde ab. Bei der anschließenden Ermittlung stellten Grenztruppen-Offiziere fest, dass die drei jungen Männer sogar mit ihrem Radio im Wachlokal im U-Bahnhof Heinrich-Heine-Straße einen West-Berliner Sender gehört hatten.
Im Abschlussbericht zu der für die SED höchst peinlichen Gruppenflucht hieß es, die drei Soldaten hätten möglicherweise in „Unkenntnis über die Perspektiven der Entwicklung unserer Republik“ gehandelt. In Wirklichkeit war wohl genau die Kenntnis um den „real existierenden Sozialismus“, der seine Bürger einsperren musste, damit sie nicht davon liefen, das Motiv ihrer Fahnenflucht.
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