Dann wartete am Großen Grenzknick im Hinterhalt ein Stasi-Mordkommando...von hpf
Ein Kreuz und ein Feldstein erinnern an der Kreisstraße 28 zwischen Bröthen und Langenlehsten an die Ermordung von Michael Gartenschläger am 30. April 1976 durch Stasischergen. Foto: Volker Frisch
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http://de.wikipedia.org/wiki/GNU-Lizenz_f%C3%BCr_freie_DokumentationStasi-Chef Erich Mielke kochte vor Wut, als er die Meldung bekam. An der Zonengrenze hatten am 30. März 1976 Unbekannte nachts eine Selbstschussanlage SM 70 geklaut. Und das an einer der am stärksten verbarrikadierten und bewachten Grenze der ganzen Welt. Und selbst am Morgen danach hatten die eigenen Grenzpatrouillen noch nichts bemerkt. Erst „der Klassenfeind“ in Gestalt eines Bundesgrenzschutz-Beamten musste zwei Grenzsoldaten höhnisch aufmerksam machen, das an ihrem Grenzzaun eine SM 70 fehlt. Im westdeutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel war am 12. April zu lesen, wer das Ostberliner Regime und seine Grenztruppe an der Nase herumgeführt hatte: Ein vom Westen freigekaufter politischer Gefangener, der 32jährige Bürgerrechtler Michael Gartenschläger, der nun in Hamburg lebte. Die nächste Hiobsbotschaft bekam Mielke am 24. April zu schlucken. An der Zonengrenze hatte der Neu-Hamburger in der vergangenen Nacht erneut einen Selbstschussapparat erbeutet. Mielke tobte und setzte ein aus Stasi-Elitesoldaten bestehendes Mordkommando seiner Hauptabteilung I in Marsch. Diese Abteilung überwachte alle militärischen Einheiten einschließlich der Grenzer in der DDR.Nur mit dem Mauerbau und dem unmenschlichen Grenzregime stoppte die DDR 1961 die Fluchtwelle aus der SED-Diktatur in die Freiheit nach Westdeutschland. Zweieinhalb Millionen Menschen hatten bis dahin die 12 Jahre bestehende DDR verlassen, meist über die bis dahin offenen Westsektoren von Berlin. Wer nach dem 13. August 1961 versuchte, über den sogenannten „Antifaschistischen Schutzwall“ zu fliehen, riskierte in den Minenfeldern an der Berliner Mauer und der Zonengrenze bei lebendigem Leibe zerfetzt oder unter dem Kugelhagel der schießenden Grenzer zu sterben. Diesen Tötungsterror an der innerdeutschen Grenze „perfektionierte“ das SED-Regime ab 1970 noch mit der Installation der Selbstschussanlagen SM 70. Doch die DDR-Führung gierte auch nach internationaler Anerkennung. Deshalb maskierte sich das Regime – inzwischen waren beide deutschen Staaten Mitglieder der UNO - auf internationalem Parkett, beispielsweise der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 in Helsinki, nach außen als „menschlicher Staat“. SED-Chef Honecker bestritt die Selbstschussanlagen an der Zonengrenze, während sein Außenminister Oskar Fischer von „harmlosen Attrappen“ sprach...
Schon als 17jähriger Autoschlosserlehrling hat der am 13. Januar 1944 in Strausberg geborene Michael Gartenschläger die Gewalt des Staates zu spüren bekommen. Als Fan von Rock´n´Roll-Musik gründete er in seiner Heimatstadt, die ab 1956 Sitz des ostdeutschen Ministeriums für Nationale Verteidigung war, mit anderen Jugendlichen einen Ted-Herold-Club. Mehrmals fuhr er mit seinen Freunden über die damals noch offene Sektorengrenze nach West-Berlin, kaufte Schallplatten, Westernhefte und Jeans und besuchte das Amerikahaus. Der Strausberger Ted Herold-Club wurde schließlich von der Volkspolizei, im Volksmund spöttisch Vopos genannt, verboten. Als der damalige SED-Chef Walter Ulbricht am 13. August die Berliner Mauer bauen ließ, malten Gartenschläger und seine Freunde nachts politische Protestparolen wie „SED-Nee“ oder "Nieder mit der Mauer" an die Häuser und Mauern der Stadt Strausberg. Sie steckten in ihrem jungen Hass auf das Ostberliner Regime sogar eine Feldscheune einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) in Brand. Sie glaubten, damit ein Zeichen zu einem Aufstand gegen die SED zu geben. Die fünf Jugendlichen wurden verhaftet. In der Stasi-U-Haft in Frankfurt/Oder reagierten sie mit jugendlichem Trotz und entgegneten den Vernehmern, sie hätten ja auch NVA- und Russen-Kasernen überfallen und mit dort erbeuteten Waffen in den Westen durchbrechen können. Die Stasi-Verhörer schrieben alles eifrig ins Protokoll, auch wenn die Jugendlichen sich nur ihren Frust von der Seele reden wollten und es gar nicht ernsthaft so meinten.
Lebenslang für GartenschlägerUnter Regie der Staatssicherheit, der SED-Bezirksleitung und der Justiz wurde ein Gerichtsverfahren vorbereitet, in dem ein Exempel republikweit für andere Jugendliche statuiert werden sollte, die sich ebenfalls offen zu Westmusik und ihren Idolen wie Elvis Presley oder Ted Herold bekannten - aber politisch wenig auf der Wellenlinie der FDJ-Parolen "von der drohenden Kriegsgefahr des westdeutschen Imperialismus und seiner Frontstadt Westberlin" waren. In einem öffentlichen Schauprozess im Volksarmee-Kulturhaus Strausberg wurden die fünf vom Ted-Herold-Club wegen "staatsgefährdender Hetze und Gewalt, wegen staatsfeindlicher Propaganda und Zerstörung von Volkseigentum (Diversion)" zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, Gartenschläger und einer seiner Freunde sogar zu lebenslänglicher Haft. Sie hätten "sich zum willfährigen Werkzeug westdeutscher Kriegshetzer wie Adenauer und Brandt gemacht und im Westberliner Amerikahaus Kontakt zu Agenten und Saboteuren gegen die DDR gesucht", bellten Staatsanwalt und Richter in wütendem SED-Vokabular. Erst 1971 kaufte der Westen den politischen Gefangenen Michael Gartenschläger in einer humanitären Aktion aus dem Zuchthaus Brandenburg frei.
Als frischer und freier Bundesbürger im Westen vergaß der nunmehr 27jährige Gartenschläger nicht die Gewalt und Verlogenheit der SED-Diktatur. Er brannte völlig darauf, dieses unmenschliche Regime zu bekämpfen. Wobei er auch bereit war, seine gerade gewonnene Freiheit und sein Leben in die Waagschale zu werfen. Sechs Menschen chauffierte er persönlich versteckt im Auto über die Transitstrecke aus Ostdeutschland in die Bundesrepublik. Insgesamt half er bei der Flucht von 31 Menschen. Doch das genügte Gartenschläger nicht, der in der Haft eine Ausbildung zum Dreher gemacht hatte und handwerklich sehr begabt war. Ihn reizte es nun, eine Selbstschussanlage von der innerdeutschen Grenze in die Hand zu bekommen, um die Menschenfeindlichkeit des DDR-Regimes anhand solch eines grausamen Tötungsapparates international anzuprangern.
Aber so ein Vorhaben war nicht einfach. Das Risiko lag darin, über das Vorland hinter den Grenzpfählen, das ebenfalls schon DDR-Gebiet war, zum Grenzzaun vor zu kriechen, dort eine SM 70 zu entschärfen, sie abzuschrauben und damit unbemerkt wieder zurück auf bundesdeutsches Gebiet zu gelangen. Gartenschläger und zwei Helfer fuhren in der mondlosen Nacht des 30. März 1976 mit dem Auto nach Bröthen im Schleswig-Holstein´schen Kreis Herzogtum Lauenburg an die ostdeutsche Grenze. Der Bürgerrechtler und einer der Helfer, ein Freund von ihm, streiften dunkle Kleidung über und schwärzten sich die Gesichter. Alles war ruhig. Mit einer selbst zusammengezimmerten Leiter robbten der 32jährige und sein Begleiter vorsichtig etwa 30 Meter zum Sperrzaun, an dem die Selbstschussanlagen in regelmäßigen Abständen auf östlicher Seite installiert waren. Der dritte Helfer sicherte als Beobachter das Vorhaben von bundesdeutschem Terrain aus. Gartenschläger stellte die Leiter, die sein Freund festhielt, an den drei Meter hohen Zaun und stieg hinauf. Es gelang ihm im Dunkeln, die elektrischen Kabel, die die SM 70-Schüsse auslösen sollten, wenn ein Flüchtling die Signaldrähte am Zaun berührte, zu ertasten und zu durchtrennen. Etwas mehr Kraft erforderte das Abschrauben. Auch der Rückweg gelang ungehindert. Ähnlich funktioniert es am 23. April beim Kapern des zweiten Selbstschussgerätes.
Der Bürgerrechtler ging jedoch erst nach ermutigendem Zureden von Freunden mit der erbeuteten Selbstschussanlage an die Öffentlichkeit. Als er im Hamburger Verlagshaus des Nachrichtenmagazins Der Spiegel den Redakteuren den Apparat auf den Tisch legte, dessen gerade gerichtetes Horn man in Unwissenheit auch für eine Rummeltröte halten konnte, staunten die Presseleute Bauklötzer. Doch nachdem sie die ganze Geschichte als wahr gecheckt hatten, bekam Gartenschläger ihre volle Aufmerksamkeit. Der Spiegelartikel schlug weltweit ein. Das ostdeutsche Regime war gleich doppelt blamiert: Einmal wegen dieser menschenfeindlichen Mordapparate, aber auch, weil sie ein ehemaliger politischer Gefangener aus der DDR und nun in Hamburg lebender Bürgerrechtler heimlich an der gefährlichen DDR-Grenze ungehindert abbauen und der weltweiten Öffentlichkeit präsentieren konnte. Verständlich, das nun auch das Haus am Checkpoint Charlie in West-Berlin – das Fluchtmuseum an der Ostberliner Mauer – so ein Requisit für seine ständige Ausstellung haben wollte. Gartenschläger fühlte sich ungeachtet der Warnungen von Freunden, des Spiegel und des Bundesgrenzschutzes sowie ernst zunehmender ostdeutscher Drohungen nochmals gefordert.
Die Stasi hatte inzwischen in Hamburg Spitzel auf den 32jährigen angesetzt. Einer dieser Stasi-IM´s stammte direkt aus dem Freundeskreis des Bürgerrechtlers und verriet dem ostdeutschen Geheimdienst, Gartenschläger wolle - "bewaffnet mit Pistole und Handgranate" - nochmals am sogenannten Großen Grenzknick bei Bröthen "zuschlagen". Der Stasi-IM wusste bloss nicht wann. Aber Gartenschläger plante längst, die dritte Selbstschussmaschine woanders im Raum Uelzen an der Zonengrenze abzubauen, wie Freunde von ihm nach seinem Tod eröffneten. Aus dem Bergholzer Forst zwischen Bröthen und Langenlehsten wollte er in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1976 eigentlich bloß noch eine dort versteckte Leiter holen. Auf einmal bekam Gartenschläger jedoch die Schnapsidee, hier am Grenzzaun bei Bröthen, wo er schon zwei SM-70 erbeutet hatte, noch schnell eine Selbstschussanlage detonieren zu lasssen: "Damit die wissen, dass ich hier war..." Und das, obwohl alle drei bemerkten, dass die nach dem SM-70-Klau installierten Scheinwerfer entlang des Grenzzaunes an der Grenzknick-Spitze an diesem Abend unerklärlicherweise nur schwach glimmten. Zwei Freunde, die ihn zum Bergholzer Forst begleitet hatten, versuchten ihn davon zurückzuhalten. Sie sagten ihm aber nichts von dem metallischen Klicken, dass sie vom Grenzzaun her gehört hatten.
Die Falle am Großen GrenzknickDer 32jährige schlich allein geduckt, bewaffnet mit einer Pistole, über den vorgelagerten nur 30 Meter breiten Zonengrenzstreifen zum Zaun. Plötzlich krachten genau auf diesem Grenzstreifen vor dem Sperrzaun etliche Schusssalven. Die am Bergholzer Forst wartenden Freunde sahen die Mündungsfeuer. Ringsum schlugen auch in die Baumstämme auf westdeutschem Gebiet ostdeutsche Geschosse ein. Wie auf Kommando flammten die Scheinwerfer am Grenzzaun wieder auf und tauchten die Szene in schrecklich helles Licht. Einer von Gartenschlägers Helfern schoss geschockt aus einer abgesägten Schrotflinte auf die vor ihm liegende Grenze. Es half aber nichts mehr. Michael Gartenschläger starb im Zonengrenzstreifen an seinen Schussverletzungen aus drei Kalaschnikow-Maschinenpistolen AK 47 und einem leichten Maschinengewehr (lMG) des Typs Kalaschnikow. Und das metallische Klicken, das seine Begleiter zuvor gehört hatten, war möglicherweise das Durchlade-Geräusch von einer dieser drei Kalaschnikow-Maschinenpistolen gewesen, deren Magazin 30 Patronen vom Kaliber 7,62 mm fasste, oder dem Maschinengewehr. Es konnte mit einem Trommel- oder einem schon vom AK 47 bekannten leicht gebogenen Stangenmagazin ausgerüstet werden, dessen Fassungsvermögen je nach Magazinart 30, 40, 75 oder gar 100 Patronen vom Kaliber 7,62 mm betrug.
Die Mörder waren keine normalen DDR-Grenzsoldaten. Es waren Angehörige eines insgesamt 21 Mann starken, auf den 32jährigen angesetzten Stasi-Elitekommandos der MfS-Hauptabteilung I, die statt der regulären Grenzkompanie dort nachts die Grenz-Bewachung übernommen hatten. "Heiß gemacht" wurden sie bei ihrer Einweisung mit der Warnung, Gartenschläger sei mit Pistole und Handgranate bewaffnet. In der Erwartung des "gefährlichen Grenz-Provokateurs" hatten sich die Stasi-Elitesoldaten an der Zonengrenze zwischen Bröthen (Schleswig-Holstein) und Leisterförde (DDR, Landkreis Hagenow) entlang des gesamten Großen Grenzknicks verteilt.
Bereits seit einigen Nächten hatten sie "feindwärts" (in Richtung Bundesrepublik - die Red.) auf dem noch zur DDR gehörenden Grenzstreifen vor dem Zaun auf der Lauer gelegen. Sogar der Strom für die drei Reihen Selbstschussanlagen am Zaun war "aus Sicherheitsgründen" abgeschaltet worden, so dass keine Detonationsgefahr von dort drohte. Vorn an der Spitze des später im DDR-Grenzer-Jargon genannten "Gartenschläger-Knicks" war der Bürgerrechtler in den Hinterhalt von vier Angehörigen dieser Stasi-Sondereinheit geraten, die dort im völligen Dunkeln im Heidekraut in Deckung lagen - jeweils zu zweit vorn rechts und links vom Grenzzaunknick. Gartenschläger war völlig ahnungslos zwischen den lauerden MfS-Häschern gebückt durchgeschlichen bis fast drei Meter an den Zaun heran, nur fünf bis maximal zehn Meter von einem der Elitesoldaten entfernt, als alle vier auf ihn feuerten.
Der Plan zum Vorgehen gegen Michael Gartenschläger war am 26. April 1976 vom Chef der Stasi-Hauptabteilung I, dem General Kurt Kleinjung, unterzeichnet worden. "Weitere Angriffe auf die SM 70 zu verhindern und den oder die Täter festzunehmen bzw. zu vernichten", war dort als Ziel festgelegt, aber ebenso, dass nur quer zur Zonengrenze gefeuert werden dürfe und keinesfalls auf westdeutsches Terrain. (Der Begriff "vernichten" habe im MfS "nichts anderes bedeutet", als den Gegner "kampfunfähig" zu machen, ihn beispielsweise "durch gezielte Schussverletzungen außer Gefecht zu setzen, ihn aber nicht zu töten", belehrte 24 Jahre später Ex-Stasi-Major Frank Osterloh, nunmehr Rechtsanwalt, als Verteidiger einer der Gartenschläger-Mörder das Landgericht Schwerin.) Die Sondereinheit hatte sich noch am gleichen Tag des 26. April 1976 in einem Nebengebäude der Grenzkompanie von Leisterförde "konspirativ" einquartiert und war ab sofort am Großen Grenzknick jeweils von 21 abends bis 3 Uhr morgens verdeckt in Stellung gegangen.
Plötzlich tauchte tagsüber am 28. April 1976 sogar Gartenschläger höchstpersönlich mit Filmleuten am Grenzknick auf. Sie hatten sich als ARD-Team vorgestellt und sich mit ihm verabredet, um nochmals zu drehen, wie er beim Abbau der beiden SM-70 vorgegangen war. Gartenschläger traute sich sogar am hellerlichten Tag etwas mehr als geschätzte zehn Schritte auf den vorgelagerten Zonengrenzstreifen der DDR - sehr zum Verdruss von Westseite auftauchender Beamten des Bundesgrenzschutzes, die den Hamburger mittlerweile von seinen Aktionen bestens kannten. --- Nach dem Tod Gartenschlägers recherchierten Freunde von ihm misstrauisch nach dem angeblichen Filmteam bei ARD und ZDF: Doch keine der beiden Fernsehanstalten hatten zur fraglichen Zeit eine Crew an besagten Grenzabschnitt zu einem Drehtermin mit dem 32jährigen geschickt. Gehörten die angeblichen "Fernsehleute" zum MfS und zum Mordplan an Gartenschläger, um von ihm persönlich "noch rechtzeitig" seine Vorgehensweise "auszukundschaften.
Silbener Kampforden und 1500 Ostmark MordprämieDer Staatssicherheitsdienst wertete die „Operation SM 70“, so hieß der mörderische Plan, als „vollen Erfolg“. „Sehr gut“ hieß es auch im Einsatzbuch der Sondereinheit. Die Mordschützen wurden zur "Belobigung" nach Ostberlin beordert. Mielke überreichte ihnen den Kampforden in Silber und jedem 1500 Ostmark „Mord-Prämie“. Die Vier vom Stasi-Sonderkommando haben nach Unterlagen des MfS, die erst nach der Wende auftauchten, in der Mordnacht in einer Zeitspanne von knapp 60 bis 80 Sekunden mit mehreren Feuerstößen insgesamt mehr als 80 Patronen verschossen. Michael Gartenschläger wurde laut dem damals unter MfS-Aufsicht gefertigten Obduktionsbericht der Gerichtsmedizin Schwerin von neun Schüssen getroffen. Einige Feuerstöße der Stasi-Schützen waren auch auf bundesdeutsches Gebiet gerichtet. Den beiden Helfern Gartenschlägers "pfiffen" nach ihren Schilderungen einige Geschosse über die Köpfe, so dass sie unabhängig voneinander aus Angst in den Bergholzer Forst flüchteten. Einer sprang in Gartenschlägers BMW, fuhr in die nahe Stadt Büchen und alarmierte von einer Telefonzelle aus den Bundesgrenzschutz (BGS). Und die BGS-Beamten stellten später bei ihren Ermittlungen ebenfalls den Einschlag ostdeutscher 7,62-mm-Patronen zwischen 70 Zentimetern und 3,40 Metern Höhe an mehreren Bäumen auf westdeutschem Gebiet fest. Seine letzte Ruhe fand Michael Gartenschläger im Stasi-Jargon auf „konspirative Art“. Er wurde als „aus der Elbe gefischte Wasserleiche“ anonym auf einem Schweriner Friedhof verscharrt. Heute ist seine letzte Ruhestätte bekannt. Ein Grabstein steht dort auf dem Schweriner Waldfriedhof. Zwischen Bröthen und Langenlehsten erinnern ein Kreuz und ein Feldstein an den wirklichen Tod des Bürgerrechtlers.
In einer sogenannten „Analyse über Delikte und politisch-operative Sachverhalte sowie feindlich-negative Pläne, Absichten und Aktivitäten mit terroristischem Charakter“ schrieb Stasi-Generalleutnant Kleinjung, der mit seiner MfS-Hauptabteilung I für den Hinterhalt und Mord an Gartenschläger verantwortlich war, im Oktober 1977: „In der Nacht vom 30.4.1967 zum 1.5.1976 betrat im Abschnitt des Grenzregiments 6 Schönberg, auf Höhe der Grenzsäule 231, der Gartenschläger das Territorium der DDR mit dem Ziel, eine weitere SM 70 abzubauen. Seine Komplizen L. und U. sicherten ihn von der Grenzlinie aus. Bevor er die Tat ausführen konnte, wurde Gartenschläger durch Sicherheitskräfte der DDR liquidiert.“ – In diesem Bericht steht kein Wort darüber, dass der Erschossene zuerst das Feuer aus einer Pistole auf die vier Angehörigen des Stasi-Sonderkommandos eröffnet haben soll.
Die Variante, dass Gartenschläger zuerst das Feuer aus seiner Pistole auf die Stasi-Sondereinheit eröffnet habe, behaupteten die vier vom MfS auch "Kämpfer" genannten Mordschützen das erste Mal zu Beginn der 90er Jahre, als Untersuchungsbeamte der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) die einstigen Angehörigen der HVA I-Einsatzkompanie zu den Ereignissen in der Nacht vom 30. April zum 1. Mai 1976 am großen Grenzknick befragten. Der Zugführer des vierköpfigen Kommandos, vom Dienstgrad Leutnant, sagte aus, er und die drei Unteroffiziere seien gerade entlang eines Trampelpfades auf dem "feindwärts" (zur Bundesrepublik - die Red.) liegenden Grenzstreifen vor dem Zaun nachts Patrouille gegangen (schon das war eine Lüge -die Red.), als Gartenschläger aufgetaucht sei und sie zuerst beschossen habe. Die damaligen Aussagen widersprachen sich auch in der Art und Weise der Schussfolge. Der Leutnant behauptete während den ersten Vernehmungen, er habe "den Grenzverletzer" nach dessen ersten Schuss angerufen "Halt stehen bleiben" und einen Warnschuss abgegeben. Darauf habe Gartenschläger erneut gefeuert, worauf die "Kämpfer" das Feuer aus Notwehr erwidern mussten... Ein anderer Angehöriger der Sondereinheit, der hinter dem Grenzzaun in jener Nacht am Kraftfahrzeug-Hindernisgraben als Beobachter eingesetzt war, entgegnete dagegen damals dem ZERV, er habe keinen einzelnen Schuss vernommen, sondern sofort Dauerfeuer.
Nach der Wende und der Wiedervereinigung mussten sich drei ehemalige Stasi-Leute der Sondereinheit wegen der tödlichen Schüsse auf den Bürgerrechtler vor dem Landgericht Schwerin verantworten. Nun sagten sie aus, ihre Aufgabe sei die Festnahme Gartenschlägers gewesen. Aber er habe nach ihrem Warnruf zuerst einen Schuß aus seiner Pistole abgefeuert, bevor sie in Deckung liegend „deshalb aus Notwehr das Feuer auf ihn eröffnen mussten“. Doch auf beweiskräftige Schmauchspuren sind 1976 weder der Tote noch seine Waffe von der Stasi oder der ostdeutschen Gerichtsmedizin untersucht worden. Die beiden Freunde Gartenschlägers, die den Mordanschlag von westdeutschem Boden aus verfolgt hatten, bestritten dagegen, dass er mit seiner Pistole geschossen habe. Die Stasi-Leute hätten, als der 32jährige noch zum Zaun schlich, ohne jegliche Warnung sofort aus allen Rohren auf ihn gefeuert.
Das wichtigste Beweismittel fehlt im GerichtsprozessNochmals zu Gartenschlägers Pistole: Für kurze Zeit gingen in jeder Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1976 am Großen Grenzknick die nach dem Feuerüberfall auf Gartenschläger urplötzlich aufgeflammenten Scheinwerfer wieder aus. Die Stasi brauchte keine Zeugen, als die Mörder den leblosen Körper Michael Gartenschlägers durch das extra für den Hinterhalt geschaffene Schlupfloch zerrten und ihn dann wegschleppten. Einer von ihnen hatte die Pistole Gartenschlägers in dessen Manteltasche gefunden und nahm die Waffe mit auf die andere Seite des Grenzzauns. Dabei will er festgestellt haben, dass im achtschüssigen Magazin nur noch sieben Schuss waren und eine Geschosshülse im Lauf klemmte. Das vertrat der "Kämpfer", der die Waffe angeblich selber inspiziert hatte, auch vor dem Landgericht Schwerin. Er war als vierter Mann des Kommandos allerdings nicht angeklagt und trat in Schwerin als Kronzeuge des Staatsanwaltes gegen seine drei ehemaligen Kollegen auf. Und den angeklagten Todesschützen und ihren Anwälte kam die Aussage des vierten "Kämpfers" zum Thema Pistole gerade recht.. Sie werteten sie als Beweis dafür, dass der "Grenzprovokateur" zuerst angegriffen habe und die Leute vom Kommando der MfS-Einsatzkompanie "in Notwehr zurückschießen mussten". Als Beweismittel lag jedoch Gartenschlägers Pistole in der Gerichtsverhandlung nicht vor. Unauffindbar, hieß es. Und auch nach der geründlichen Absuche des noch zur DDR gehörenden Grenzstreifens am Großen Grenzknick damals am 1. Mai 1976 durch Stasibedienstete verfügte das Gericht später nach der Wende nicht über beweiskräftige Gegenstände aus jener Mordnacht. Auch kein Geschoss aus Gartenschlägers Waffe, das man bei wirklich gründlichem Absuchen des Tatortes hätte finden müssen. Oder gab es gar kein angeblich von Gartenschläger abgefeuertes Geschoss?
Ungeklärt blieb in dem Prozess der Widerspruch, warum man aus allen Rohren auf jemanden ballert, den man eigentlich lebendig festnehmen wollte? Oder stand doch in Wahrheit laut Befehl Mielkes von vorn herein fest, den Bürgerrechtler „zu liquidieren“, zu erschießen? Die Staatsanwaltschaft ging in dem Verfahren genau davon aus: Mit einer zweiten Salve hätten die drei Todesschützen den bereits wehrlos am Boden liegenden endgültig getötet. Der vierte, aber nicht angeklagte Stasi-Mann des Kommandos stützte in seiner Aussage aks Kronzeuge diesen Vorwurf: Er sei nach den ersten Schußsalven zu dem vor Schmerzen stöhnenden Schwerverwundeten gerobbt und habe seinen Stasi-Genossen zugerufen: "Der lebt noch!" Der Führer des Kommandos habe aber gebrüllt: "Weg da vorn!" Dann sei nochmals Dauerfeuer geschossen worden. Die drei Angeklagten behaupteten dagegen, sie hätten nur "zur BRD hinüber in die Luft geschossen" weil sie dort noch "weitere Angreifer vermuteten..." Schon bei den Untersuchungen und den Vorbereitungen ihrer Anklage hatte es die Staatsanwaltschaft nicht für nötig erachtet, der Frage nach dem ominösen Fernsehteam nachzugehen. Nach Einschätzungen von Freunden des Ermordeten eine möglicherweise wichtige Spur, falls es MfS-Leute waren, die für die Mordtruppe noch einen entscheidenden "Informationsfilm" lieferten, sozusagen "exklusiv" über das und vom "Zielobjekt persönlich"...
Die drei Stasi-Schützen wurden in Schwerin von dem Vorwurf „der Tötung aus niedrigen Beweggründen“ freigesprochen. Mit den Worten "Es ist alles möglich, aber nicht beweisbar" schloß der Vorsitzende Richter die Verhandlung vor dem Landgericht. Der Staatsanwalt hatte mit einer Revision keinen Erfolg. Der Stasi-Oberstleutnant, der die auf Gartenschläger angesetzte Sondertruppe befehligte, wurde zwar vom Landgericht Berlin "der Anstiftung zum Mord" für schuldig befunden, kam aber „wegen zwischenzeitlicher Verjährung“ ebenfalls straffrei davon. Aber letzendlich sprach ihn der Bundesgerichtshof Leipzig von allen Vorwürfen frei.
Der Schießbefehl für die Stasisondereinheit der Hautabteilung I, die auch Gartenschläger tötete. Ehemalige MfS-Offiziere bezeichnen dieses Papier dagegen nur als Dienstanweisung für die Sondertruppe. Der Begriff "tschekistisch" ist von der Geheimpolizei Lenins aus der russischen Oktoberrevolution 1917, von den grausam gegen Revolutionsfeinde vorgegangenen Tschekisten unter Felix Dshershinsky "entlehnt" - die Stasi sah sich als Nachfolger. Und genau dieser erst 2007 in der Birthler-Behörde in Berlin aufgetauchte Befehl weckt Zweifel an den Aussagen, die die MfS-Schützen 2003 bei ihrem Prozess vor dem Landgericht Schwerin gemacht hatten. In der ZDF-Sendung Frontal sagte Dr. Jochen Staadt vom Forschungsverbund "SED-Staat" der Freien Universität Berlin am 2. Oktober 2007: "Ich gehe davon aus, dass weder Warnrufe vorher abgegeben wurden, noch Warnschüsse, sondern dass man Gartenschläger kaltblütig töten wollte und auch getötet hat.
1983 vermittelte der damalige bayrische Minsterpräsident Franz Josef Strauß der DDR einen dringend benötigten Milliardenkredit der Bundesrepublik, genauer der Bayrischen Landesbank. Denn schon damals war das Ostberliner Regime fast pleite. Als „Gegenleistung“ sicherte SED-Generalsekretär Erich Honecker die Demontage der weit mehr als 55 000 Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze zu, die dann auch von den Grenztruppen entfernt wurden.1984 bekam die DDR auf dieser Schiene nochmals einen Kredit von einer Milliarde D-Mark. Diesmal ließ das SED-Regime 40 000 Menschen ziehen, die einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik gestellt hatten, ohne dafür vom Westen die übliche Freikaufsumme zu verlangen.
Die Einsatzkompanie des MfSDie Einsatzkompanie genannte Sondereinheit der Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit rekrutierte sich aus Absolventen der Grenztruppen-Unteroffiziersschule VI in Perleberg, die ein weiteres halbes Jahr in MfS-Spezialschulen auf ihren „spezifischen Einsatz“ vorbereitet wurden. Sie hatten den Status von Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeitern im besonderen Einsatz (HIME), traten aber nach außen weiterhin als reguläre Angehörige der Grenztruppen auf. Ihre Vorgesetzten (z.B. Zugführer) waren Offiziere im besonderen Einsatz. Stationiert war die Einsatzkompanie zeitweilig in Stolpe (Kreis Oranienburg) und in Schulzendorf (Kreis Königs Wusterhausen), nach außen abgedeckt als Grenzkompanie des Grenzregimentes 42. Kompaniechefs waren Eberhard Starke (1968–1979), Wolfgang Singer (1979–1983) und Alexander Baier (1983–1985). 1968 gehörten zehn HIME zur Einsatzkompanie, 1969 bereits 30, in den folgenden Jahren schwankte die Zahl zwischen 50 und 70. Das Aufgabenspektrum der Kompanie war vielfältig: von der Durchführung von Sicherungs- und Beobachtungsaufgaben über getarnte militärische Operationen an der Grenze bis hin zu personenbezogenen Überwachungsmaßnahmen. Häufig wurden Angehörige der Einsatzkompanie konspirativ in Einheiten der Grenztruppen, teilweise auch der NVA, eingeschleust, um dort zu ermitteln. In den achtziger Jahren agierten sie auch unter den Bausoldaten. 1985 wurde die Einsatzkompanie aufgelöst; die Grenztruppen besaßen inzwischen eine eigene Einheit mit entsprechendem Aufgabenprofil.
Quellen des gesamten Gartenschläger-Berichtes: "Michael Gartenschläger - Kampf gegen Mauer und Stacheldraht" von Freya Klier,
wikipedia.de "Martin Gartenschläger",
"Todesautomatik - die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger" von Lothar Lienecke und Franz Bludau,
BStU, die Bundesbeauftragete für die Stasiunterlagen,
"Michael Gartenschläger: Der Prozess" von Andreas Frost,
und eigene Recherchen
Nachklapp:
„Grenztruppen der DDR“ nennt sich eine Homepage für ehemalige Angehörige des ostdeutschen Grenzregimes im Internet. Dort ist noch heute über den Tod von Michael Gartenschläger in der Nacht des 30. April 1976 folgendes zu lesen: „ In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai dringt der BRD-Bürger Michael Gartenschläger mit zwei weiteren Provokateuren auf das Hoheitsgebiet der DDR und versucht am „Großen Grenzknick“, im Grenzabschnitt des GR-6 Schönberg die 3. SM-70 am Grenzzaun abzubauen und zu entwenden. Er wird durch die Eingesetzten Kräfte überrascht und zum Anhalten aufgefordert. Er eröffnet sofort das Feuer auf die Sicherungskräfte. Beim Fluchtversuch wird er auf dem der Sperre vorgelagerten Hoheitsgebiet der DDR erschossen.....................................................................................“