Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Alles was in den Zeitraum nach der Wende gehört. Das Zusammenwachsen von zwei grundverschiedenen Systemen, Probleme, Erwartungen, Empfindungen usw.

Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Interessierter » 6. August 2020, 14:01

Ein Gespräch mit Ines Geipel über die politische und emotionale Lage in der Bundesrepublik dreißig Jahre nach dem Mauerfall

Im Gespräch mit Niklas Poppe schildert Ines Geipel ihre Sicht auf die gegenwärtige politische Entwicklung im Osten, den Stand der Aufarbeitung von DDR-Unrecht und die Instrumentalisierung der ostdeutschen Geschichte.

NP: Sie haben den Niedergang der DDR vom Westen aus verfolgt, haben aber gleichzeitig Kontakt mit der Bürgerrechtsszene gehabt. In Ihrem neusten Buch wird auf einen Bekannten aus jener Szene verwiesen, der nun der AfD sehr nahesteht. Medien wie der Spiegel hatten bereits zuvor über die Anbindung ehemaliger DDR- Bürgerrechtler*innen an die AfD berichtet. In Anbetracht der Größe dieser Szene erscheint die damalige Berichterstattung extrem selektiv. Haben Sie tatsächlich den Eindruck gewonnen, dass es Tendenzen hin zur AfD aus der Szene gibt?

IG: Die Szene ist groß und sehr verschieden, die Spannbreite unglaublich. Gleichwohl habe ich es in den letzten fünf Jahren, also seit 2015, immer wieder erlebt, dass ehemalige Dissidenten mich angesprochen und gesagt haben: „Hast du das immer noch nicht verstanden? Wir leben längst in der dritten Diktatur.“ Ja, klar, es gibt diese Klientel, es wäre ja auch verwunderlich, wenn nicht.

In meiner Wahrnehmung hat das viel mit dem Nicht-Ankommen im Jetzt zu tun, mit dem nicht wahrgenommenen eigenen Rückgrat zu DDR-Zeiten. Da geht es um Lebensbrüche, verunmöglichte Chancen, und wenn die von der Gesellschaft auf lange Zeit nicht wahrgenommen werden, wird das zur Einflugschneise, um eine andere politische Richtung einzuschlagen. Das ist mir auch bei einigen Mitarbeitern in Hohenschönhausen aufgefallen, die ich jetzt nicht der AfD zusprechen möchte, aber es gibt da doch eine Offenheit, den jetzigen Zustand der Demokratie im Kern infrage zu stellen.

NP: In Bezug darauf wirkt es äußerst fremd, wenn Menschen, die direkt unter der Staatssicherheit und den Repressionen gelitten haben, die Parallele zur DDR so stark ziehen. Warum kommt es gerade bei früheren Gegner*innen und Opfern der DDR zu der Ansicht, man lebe erneut in einer Diktatur, einer „DDR 2.0“?

IG: Ich kann das nur aus einem Konzentrat der Gespräche heraus entwickeln: In meinen Augen geht es noch immer um die Leidensgeschichte des Ostens: 300.000 politische Häftlinge, die Toten an der Mauer, 75.000 wegen Flucht Inhaftierte, eine halbe Million in Kinderheimen, Millionen Flüchtlinge. Da ist so viel gebrochenes, zerrissenes, klein gemachtes, zerstörtes Leben. Und daran wiederum hängen Ehen, Kinder, Freunde. Das sind unendliche innere Seelenzeitschienen.

Was will ich sagen? Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben. Die Revolution war da, die Einheit auch, also, wo ist das Problem? Mittlerweile wird klar, dass das naiv war, dass man so salopp nicht über mehr als fünfzig Jahre Diktaturgeschichte hinwegkommen kann, selbst wenn der Wunsch groß war. Nein. Es geht um staatlich verursachte Traumata, die wir nur schwer loswerden, und um die wir als Ost-Gesellschaft nicht trauern konnten, weil dieser innere Kern nach 1989 immer wieder überschrieben und auch instrumentalisiert wurde. Deshalb kann man im Grunde das alte DDR-Kollektiv heute recht umstandslos neu aufladen. Man kann es neu formatieren. Das haben die Linken bis 2015 gemacht, und das schafft die AfD nun noch leichter. Es ist eine schiefe und auch perfide Identitätspolitik. Doch je schiefer und blöder die Bilder, die aktuell benutzt werden, umso größer die Erfolge der Populisten. Das ist emotionale Schizophrenie.

Das interessante Gespräch geht hier weiter:
https://zeitgeschichte-online.de/node/57942
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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Interessierter » 7. September 2020, 08:53

Der falsche Blick auf Ost und West

Die ungleiche Entwicklung im Osten und im Westen Deutschlands lässt sich nur verändern, wenn mit anderen Sichtweisen die Probleme hierzulande angegangen werden.

In knapp vier Wochen jährt sich die deutsche Einheit zum 30. Mal. Bereits am Freitag wurde der jährliche Bericht der Bundesregierung zum Stand derselben öffentlich. Die Corona-bedingt überschaubaren Feierlichkeiten haben in Potsdam schon begonnen. Parallel dazu setzten in Leipzig die militanten Proteste der autonomen Szene gegen die Räumung besetzter Häuser ein. Hat das eine mit dem anderen zu tun? Ja und Nein.

Der Regierungsbericht zur Einheit bewegt sich auf der Linie der Vorgängerberichte. Wirtschaftlich hole der Osten auf, heißt es darin. Allerdings schreitet die Angleichung aufs Ganze gesehen im Schneckentempo voran – und das schon seit vielen Jahren. Die Autorinnen und Autoren des Berichts räumen denn auch ein: Selbst kurz vor dem Einheitsjubiläum habe noch kein Flächenland der neuen Bundesländer das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht.

Kann sein, dass sich dies in absehbarer Zeit ändert. Das im Bau befindliche Tesla-Werk des US-Amerikaners Elon Musk in Brandenburg bietet beispielsweise eine echte Perspektive für einen Qualitätssprung. Entsprechend wurde Musk in der vorigen Woche wie ein Messias empfangen. Doch das bleibt – noch – Zukunftsmusik.

Politisch stellt auch dieser Bericht fest, was bereits die Vorgänger-Berichte feststellen mussten: dass die Skepsis gegenüber den politischen Verhältnissen in Ostdeutschland unverändert größer ausfällt als in Westdeutschland, und das obwohl der Zeitraum seit dem Fall der Mauer bereits zwei Jahre länger ist als der Zeitraum, in dem diese Mauer stand.

Meistens drückt sich die Skepsis Rechtsaußen aus – mit breiten Übergängen zur politischen Mitte hin. Dass die Köpfe der ostdeutschen AfD vielfach Westdeutsche sind, ist weniger ein Gegenargument als Bestätigung der These. Radikale wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz wissen, dass für sie im Westen nichts oder viel weniger zu holen wäre. Bei der NPD war es in den 1990er Jahren ähnlich.

Das Problem dieses Berichts wie der Vorgänger-Berichte ist indes, dass der Westen Maßstab des Ostens bleibt. Dabei wäre doch ebenso spannend wie notwendig zu betrachten, wie sehr sich seit 1990 auch der Westen verändert hat und wie die Teile aufeinander wirkten.

Man müsste, wenn es um politische Radikalität geht, dann nicht allein nach Sachsen schauen, sondern auch nach Baden-Württemberg oder Hessen, wo Rechtspopulisten und Rechtsextremisten zuletzt immer stärker in Erscheinung getreten sind. Das könnte zu einem wirklichen Nachdenken über das gemeinsame Land führen. Es hätte, wenn Westdeutschland diese Art der Betrachtung denn zuließe, einen Dialog auf Augenhöhe zur Folge.

Das Irritierende an Leipzig ist nun, dass es in doppelter Weise von der Norm abweicht. Die Stadt gilt ökonomisch betrachtet als Boomtown, als „Hypezig“. Indikator dieses erfreulichen Aufschwungs sind die unerfreulichen Verhältnisse auf dem Immobilienmarkt.

Die Einwohnerzahl steigt. Wohnungen werden knapp und teuer. Zugleich macht Leipzig anders als „das rechte Dresden“ seit Jahren mit einer entwickelten linksradikalen Szene von sich reden. Die wiederum nimmt die herrschenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt teilweise zum Anlass für Randale und Angriffe auf Polizisten – so wie in Berlin oder Hamburg.

Aus dem thüringischen Jena, das ähnlich wie Leipzig zur Boomtown geworden ist, gibt es solche Bilder nicht. Ja, Leipzig gilt in Sicherheitskreisen mittlerweile als der Hotspot der Autonomen. Im Einheitsbericht steht: Dass die ostdeutschen Einkommen bei lediglich 86 Prozent der westdeutschen Einkommen lägen, werde durch „vergleichsweise günstige Preise für Mieten und Bauland zu einem erheblichen Teil“ kompensiert. Genau das trifft auf Leipzig immer weniger zu.

Dass die Gewalt und ihre Rechtfertigung längst gesamtdeutsch geworden sind und so gesehen eine gewisse Normalisierung eingetreten ist, ist gleichwohl kein Grund zur Freude. Wie nachvollziehbar die Wut bei manchen auch sein mag: Die Urheber von Angriffen auf Polizisten, die als Bürger übrigens ebenfalls unter der Gentrifizierung leiden, sind politische Kriminelle; sie müssen in Ost wie West bestraft werden.

https://www.fr.de/meinung/der-falsche-b ... 37985.html

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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon augenzeuge » 7. September 2020, 15:13

Deutsche immer noch geteilt: So unterschiedlich sehen Ost- und Westdeutsche die Einheit

Die Deutschen in Ost und West haben einen unterschiedlichen Blick auf die Geschichte der deutschen Einheit vor 30 Jahren. Einer am Montag in Gütersloh veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge sind die damaligen Ereignisse für Menschen in Ostdeutschland oftmals eng mit teils dramatischen biografischen Umbrüchen verbunden. Den Menschen aus der alten Bundesrepublik fehlt demnach hingegen häufig ein persönlicher Bezug zu den gesellschaftlichen Änderungen.

"Die deutsche Einheit ist im Osten die Geschichte der friedlichen Revolution und der Montagsdemonstrationen, durch die schließlich die Wende herbeigeführt wurde", erläuterte Bertelsmann-Experte Kai Unzicker die Schlüsse der Studie, die Ergebnisse von Interviews und moderierten Gruppendiskussionen mit einer Umfrage unter knapp 1.600 Menschen verbindet.

Wiedervereinigung: Großer Einfluss für 90 Prozent der Deutschen
"Die Geschichte im Westen dagegen handelt vom Scheitern der DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten, woraus zwangsläufig die Wiedervereinigung folgen musste."

Insgesamt ist die Wiedervereinigung für 90 Prozent der Deutschen ein Ereignis, das großen oder sogar sehr großen Einfluss auf das Land hatte. Der Anteil derer, für die es einen großen oder sehr großen Einfluss auf das eigene Leben hatte, ist laut Studie im Osten mit 74 Prozent aber deutlich größer als im Westen.

Dort sind es nur 61 Prozent. Bei den Menschen im Osten überwiegt zudem noch immer das Gefühl, dass mit der Wiedervereinigung viele Dinge verlorengingen, die in der DDR gut funktionierten. 84 Prozent waren dieser Meinung. (pak/dpa)


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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Volker Zottmann » 7. September 2020, 17:44

Wer wie ich vom Bau kommt, hat sich die Wiedervereinigung garantiert nicht leichter vorgestellt als sie war.
Kohls damals ausgesprochenen 3 Jahre waren zu kurz gedacht, aber doch sehr Hoffnung machend.
Der marode Zustand der DDR konnte niemals in der kurzen Zeit aufgeholt werden.
Wenn einem das klar war, war man auch nie über einen längeren Zeitraum verwundert.
Für mich ist es immer noch der größte Glücksumstand und eine einzige Erfolgsgeschichte.

Gruß Volker
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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Bahndamm 68 » 7. September 2020, 19:33

Durch Rationalisierungsmaßnahmen hat die Firma die kundennahen Außenbüros geschlossen und den Vertrieb ganz nach Bonn in die Hauptzentrale verlegt. Wer wollte, konnte in Bonn weiter arbeiten. Wer nicht, wurde arbeitslos oder ich ging 2 Jahre früher in Rente (2007). Keinen Tag habe ich bis zum heutigen Tag bereut, obwohl ich selbst meinen letzten Arbeitstag bestimmen wollte – ging leider nicht.
Ein Kollege, durchweg ein Mann mit DDR-Einstellung, ging nach Bonn. Er führte fortan eine Wochenendehe.
Ein halbes Jahr (2008) später schrieb er mir, dass der Soli-Beitrag in den neuen Bundesländern langsam herunter gefahren werden sollte. Das Geld sollte in NRW in den Straßenbau investiert werden. Ich war überrascht darüber, denn so lang er in Berlin gearbeitet hatte, vertrat er die Meinung, dass zu wenig Geld fließen würde.
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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon OaZ » 7. September 2020, 21:46

Interessierter hat geschrieben:...
Die Einwohnerzahl steigt. Wohnungen werden knapp und teuer. Zugleich macht Leipzig anders als „das rechte Dresden“ seit Jahren mit einer entwickelten linksradikalen Szene von sich reden. Die wiederum nimmt die herrschenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt teilweise zum Anlass für Randale und Angriffe auf Polizisten – so wie in Berlin oder Hamburg.

...
https://www.fr.de/meinung/der-falsche-b ... 37985.html

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Hab vor geraumer Zeit mal irgendwo gelesen, dass die meisten Kriminellen der sog. "linken" Szene, "Importe" aus HH und B sind.
Erfahren im Häuserkampf fanden sie hier ideale Verhältnisse, da die sächsische Polizei derartige Probleme noch nicht bewältigen musste. Diesen Umstand haben sich diese kriminellen Radaubrüder zunutze gemacht und lange Zeit der Polizei teilweise auf Augenhöhe Paroli geboten.
Und Leipzigs OB Jung mag zwar ein sympathischer Typ sein, aber er hat viel zu lange diese Zecken geduldet und nicht wirksam bekämpft.

Ich habe in meinem Bekanntenkreis nicht wenige, die bei der Polizei arbeiten. Sowohl auf der Straße als auch gehobene Laufbahn. Wenn man mit denen spricht, offenbart sich das ganze Elend. Insbes. im Zusammenwirken von Ermittlungs- und Justizpersonal.
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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Olaf Sch. » 8. September 2020, 07:40

Zecken ist Nazisprech... egal was man von diesen Losern halten mag.
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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon augenzeuge » 1. Oktober 2020, 18:19

Inwiefern stimmen Sie der Aussage zu: "Ost- und Westdeutschland würde es heutzutage besser gehen, wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte"?

Ausgewertet nach Ost/West

Gleiche Frage an alle Parteien
Nur die Anhänger der AfD weichen in ihrer Meinung deutlich ab. Dort glauben nur 53,6 Prozent, dass die Einheit Ost- und Westdeutschland Verbesserungen brachte. 33,7 Prozent stimmen dagegen der Aussage zu, dass die Wiedervereinigung keine Vorteile brachte.

https://www.t-online.de/nachrichten/wis ... chen-.html

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Re: Wir sehen heute, dass wir uns das Ganze nach 1989 leichter vorgestellt haben

Beitragvon Interessierter » 1. November 2020, 11:46

Individuelle Umbruchserfahrungen und Transformationsgeschichte(n)

Umbruchserfahrungen – Erfahrungsumbruch

Mit den kollektiven Umbruchserfahrungen nach 1989/90 gingen auch individuelle Erfahrungsumbrüche einher. DDR-spezifische Wissens-, Erfahrungs- und Erinnerungsbestände, ideologisch geprägte Geschichtsbilder und über Jahrzehnte erprobte Handlungsmuster wurden mit der Friedlichen Revolution umfassend in Frage gestellt. Die ostdeutschen Transformationsprozesse brachten zugleich ganz lebenspraktische und alltagsbezogene Herausforderungen mit sich. Sicherheiten und Gewissheiten verschwanden mit dem Ende des SED-Staates. Neue Interpretationen und neue Grenzen des Sagbaren entwickelten sich rasch. Es wurde ein Justieren der Erfahrungs-, Erinnerungs- und Wissensbestände im gesamtdeutschen Setting notwendig, bei dem auch vermeintlich ostdeutsche Identitäten (neu) verhandelt wurden. Diese Um-Deutungsprozesse gingen einerseits mit hitzigen und hoch emotional geführten gesellschaftlichen Debatten einher, andererseits mit ganz individuellen Verlusterfahrungen, mit Um- und Aufbrüchen in allen Gesellschaftsbereichen.

Die DDR war mit ihrem Ende für viele Menschen ein problematischer Erlebnis- und Erinnerungsraum geworden. Darauf reagierten einige Akteur*innen mit trotziger Ostalgie, andere mit pragmatischer Zukunftsorientierung. Ein differenzierter Blick auf die individuellen Erinnerungsbestände zur DDR bedurfte erst der größeren zeitlichen Distanz; er ist heute für viele, aber längst nicht alle alltagskulturell relevanten Bereiche gegeben. Die Friedliche Revolution eröffnete jedoch auch neue Möglichkeitsräume und Erfahrungswelten: In Hinblick auf das Zurückliegende, aber auch bezogen auf die Zukunftsperspektiven, boten sich im gesamtdeutschen Rahmen neue Chancen. So erlebten viele Akteur*innen die Phase des Umbruchs als eine des Aufbruchs, deren fluide Strukturen neue Wege ermöglichten. Sie eigneten sich die radikal neu konfigurierten Lebens- und Arbeitswelten in individuellen Prozessen aktiv an und gestalteten die Veränderungen mit.

Mit den Transformationsgeschichte(n) geht es hier weiter:
https://zeitgeschichte-online.de/node/56969
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