Der Fall des MfS-Spions Kid Nach der Wende holten sich die Amerikaner den geflohenen Verräter zurück - die deutschen Gesetze waren ihnen einerlei. Die letzte Reise in Freiheit führte Jens Karney auf ein Schlachtfeld. Der Berliner kurvte mit dem roten Lada Richtung Luxemburg und Frankreich, erkundete unterwegs die Landschaft der Ardennenoffensive. Während der dreiwöchigen Tour im einst von der DDR-Staatssicherheit spendierten Auto bezogen daheim in der Pintschstraße 12 seine Häscher Position.
Verräter aus Reihen der Stasi wiesen Fahndern des Air-Force-Abwehrdienstes (Kürzel OSI) den Weg zum Altbau in Friedrichshain. Sie enthüllten: Hinter Jens Karney verbarg sich in Wahrheit der frühere US-Sergeant Jeffrey Martin Carney. Unter dem Decknamen Kid spionierte er bis zur Wende für die DDR. Samstag, den 20. April 1991, kam Karney alias Carney aus den Ferien nach Berlin zurück. Montagfrüh, kurz nach 9 Uhr, schlugen die OSI-Agenten zu.
Die auffälligen Tätowierungen bewiesen es: sie hatten den weltweit Gesuchten gefasst. Bewaffnete Greifer identifizierten ihn am schwarzen Panther auf dem rechten, einem Adler auf dem linken Oberarm. In einer Nacht-und Nebelaktion flog man Kid von Tempelhof über Frankfurt in die Staaten aus - heimlich, ohne die zuständigen deutschen Stellen zu informieren. Ein Militärgericht verurteilte den Spion kurz darauf zu 38 Jahren Haft, die er in Fort Leavenworth (Kansas) absitzt - Carney ist einer der drei am härtesten bestraften Stasi-Helfer. Seine Story liegt weitgehend im Dunkeln und wird hier erstmals an Hand der Akten rekonstruiert.
Der Funkaufklärer lieferte seit seiner Stationierung in West-Berlin 1983 Dokumente an die "Hauptabteilung Aufklärung", HVA, über 100 an der Zahl.
Als Angehöriger der "6912th Electronic Security Group" in Marienfelde beschaffte er Dossiers über die elektronische Kampfführung. Darunter das Dokument "Canopy Wing", geheimer als geheim. Es deckte auf 47 Seiten Schwachstellen der Hochfrequenz-Kommunikation des Sowjet-Generalstabs auf. Kid verriet den bizarren US-Plan, falsche Befehle in den Funkverkehr zwischen Warschauer-Pakt-Piloten und der Bodenleitstelle Eberswalde einzuspeisen; eine Datenbank mit Stimmenprofilen existierte schon.
Bis hinauf zu General Tschebrikow von der UdSSR-Staatssicherheit versah man Kids Informationen "mit höchsten Wertigkeiten". Gedeckter Rückzug über Kuba1985 verloren die Amerikaner die Spur ihres damals auf der Goodfellow Air Force Base (Texas) dienenden Berufssoldaten. Durch die Versetzung dorthin war Carneys Bedeutung "für uns noch größer", notiert HVA-Chef Markus Wolf in seinen Memoiren. Kid hielt dem Druck jedoch nicht stand, befürchtete, bei einer psychiatrischen Untersuchung komme seine Homosexualität heraus. Deshalb suchte er das Weite. Die Stasi hielt fest: Er habe sich "ohne Abstimmung mit der Zentrale" nach Mexiko abgesetzt, in der DDR-Botschaft als Quelle zu erkennen gegeben und "um politisches Asyl gebeten".
In Ost-Berlin entschied Oberst Dr. Jürgen Rogalla ("Aufklärung Nordamerika und US-Einrichtungen BRD"), den als labil eingeschätzten Spion "raus zu holen". Wahrlich nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit. Der Deserteur wusste viel, kannte konspirative Wohnungen, Telefone, Grenzschleusen, Foto- und Kopierverfahren. Rogallas Erinnerung nach lief die Befehlskette "letztlich bis zu Minister Mielke".
Ein Doppelleben. 1983 begann es dermaßen banal, dass man Kids verhängnisvolle Affäre mit der Stasi für jugendlichen Leichtsinn halten möchte. Bei einem Ausflug in die DDR verpasste der GI die Schließung des Ost-Berliner Grenzübergangs Friedrich-/Zimmerstraße um 24 Uhr. Unvergesslich für HVA-Oberst Heinz Schockenbäumer "die Nacht, in der Carney angefallen ist". "Depressiv und durcheinander, psychisch instabil", war der 19-Jährige gestrandet. Das kann auch angetrunken meinen.
In solchen Fällen verlangte das "Wachhabenden-System" unbedingte Eil-Meldung an die HVA: "Wollt ihr euch den anschauen?" Über die Mobilisierungsliste erreichte man Schockenbäumer daheim. Er befahl einen Offizier zur Friedrichstraße. Der beruhigte den Boy erstmal. Man schleuste ihn Stunden später gen Westen zurück, nicht ohne die Vereinbarung, "bei Interesse über Tag wiederzukommen". Schockenbäumer schnalzt noch heute mit der Zunge ob des Mitarbeiters, den ihm "der Zufall" in die Hände spielte. "Der Selbststeller" sprach aktzentfrei Deutsch, phänomenal sein "phonetisches Gedächtnis".
Beschäftigt mit der DDR-Flugfunküberwachung "kannte er die Stimme jedes unserer Piloten". Schockenbäumer war baff.
Sein Major Ralph Dieter Lehmann nahm Carney in Empfang. Kids Führungsoffizier studierte Politik und Psychologie. Vor ihm saß ein junger Spund mit auffällig weichen, verletzlichen Zügen.
Aus dem Gesicht ließ sich Schwäche herauslesen. Kid, wie Kind, war der passende Tarnname. Jeff brauchte die erwähnten Tattoos, um sich als ganzer Kerl zu fühlen. Ein Bündel von Impulsen mag den Feldwebel aus Cincinatti (Ohio) zu dem verhängnisvollen Schritt getrieben haben. Naive Weltverbesserungsabsicht, Abenteuerlust, Geltungsdrang, Verzweiflung, auch, wie er sagte, "Hass auf Vorgesetzte". Was immer ihn unter dem Gefühlsansturm motivierte, ein großer Plan stand nicht dahinter.
Wenn eine Wahrheit des Augenblicks existiert, dann die: der unbedachte Moment ruinierte sein Leben. Auf Stasi-Seite zählte: der amerikanische Freund kam aus einer besonders beäugten Spezialeinheit, trat auf, als könne er kein Wässerlein trüben. Niemand hätte in ihm einen Krieger für Wolfs Schattenheer vermutet, kaltblütig genug, nummerierte Top-Secret-Dossiers rauszuschleppen. Kids auffällige Unauffälligkeit bringt die Nachbarin Brigitte Boll auf den Punkt:
"Er war zurückhaltend, scheu, hatte einen weichen, kaum zu spürenden Händedruck." Deshalb traf Frau Boll "fast der Schlag", als sie 1997 seine wahre Identität erfuhr. Erst damals deckte "Focus" die widerrechtliche Verschleppung des Spions durch Alliierte auf.
Für Kid bedeutet die Umsiedlung in die DDR nicht bloß den Wechsel von einem Imperium ins andere. Mexiko ist der Scheitelpunkt des Polit-Thrillers; das böse Ende konnte man vorhersagen. Äußerlich tauscht er texanische Sonne gegen sozialistisches Grau; der Schritt kam selbstgewählter Verbannung gleich. Jeff reagiert mit "schweren psychischen Depressionen" auf das Exil. "Krankheitsneurosen" sind Folgen von "Orientierungs- und Partnerlosigkeit", vielleicht auch seelischer Qual über seinen Verrat.
Alles zusammen gehört zum Formenkreis eines gebrochenen Charakters.Anfangs schottete man ihn in Annaberg-Buchholz ab. Dann Wohnen mit Familien- anschluss bei "Herbert und Waltraud", Adresse "Pariser Kommune 1", Berlin. Herbert sei Dozent an der Uni gewesen, berichtet Carneys Lebensgefährte A. Kenner vermuten in den Beiden das "IM-Ehepaar Dr. Martin und Ehefrau". Es kontrollierte laut Akte den völlig ahnungslosen Jens "im Freizeitbereich".
Im Mai 1986 bezieht Carney die renovierte Bleibe in der Pintschstraße, Monatsmiete 49,30 Mark. Möbel von der HVA. Fernseher und Video, Marke JVC, laufen heute daheim in der glanzpolierten Behausung von Freund A. Er hat etwas Verhuschtes, wobei Kids ominöses Verschwinden auch starke Typen an den Rand der Möglichkeiten getragen hätte. Seinem Lover stellt sich Jens mit den Worten vor: "Gebürtiger Dessauer, Angestellter der Technischen Post". Der Mietvertrag tarnt ihn als zugezogen aus "Güstrow, Leninring 12", Unterschrift steil und ungeübt: "Jens Karney."
Mit weiteren Details geht es in dem längeren Beitrag hier weiter:
http://www.guardbattalion.de/index.php/ ... s-kid.html
Im letzten Absatz liest man dieses:Von den Stasi-Kameraden alleingelassen
Bei den Akten liegt ferner der staatsanwaltliche Befund, Kids Verbringung könne "objektiv strafbar gewesen sein". Die in Betracht kommenden Delikte: "geheimdienstliche Agententätigkeit, gemeinschaftliche Nötigung, Freiheitsberaubung, Amtsanmaßung". Dann folgt der Zusatz: Die Taten seien aber bereits 1996 verjährt gewesen. Also gab es auch kein Ermittlungsverfahren gegen die US-Agenten. Die hinterließen bei Kids Freund A. sogar eine Kontaktnummer, im Verfahren trat etwa "Special Agent Barry" auf. Keine Behörde sah im übrigen bisher Carneys Gauck-Akte ein, das einzige Dokument mit Hinweisen auf dessen DDR-Staatsbürgerschaft. Auch nicht das Außenministerium, das heute auf Anfrage trotzdem erklärt: "Eine Einbürgerung durch eine DDR-Behörde ist nie erfolgt." Kids Dossier legt das Gegenteil nahe. Für Carneys alte Stasi-Kameraden, die so gern über Solidarität schwadronieren, ist die Sache ebenfalls peinlich. Sonst kümmert sich die "Initiative Kundschafter für den Frieden" um verurteilte Spione. Der Extremfall Kid ist dort überhaupt nicht bekannt. Oberst Rogalla hadert mit der eigenen Deklassierung durch die Wende. Ab und an schiebt sich das Bild des ins Nichts gestürzten Carney ins Bewusstsein, rührt an sein schlechtes Gewissen. Er meint aber, selbst Spendenaufrufe in seinen Reihen brächten nicht genug Geld, um ihm einen US-Anwalt zu finanzieren. So verweist in der Stasi-Szene einer auf den anderen. In Wahrheit wird verdrängt, wieviel Menschen Mielkes Klub ins Unglück gestürzt hat.
Ein interessanter Beitrag, wie ich finde, auch wenn er schon etliche Jährchen auf dem Buckel hat und den ich zufällig auf dieser Homepage fand.