Stuttgart: „Nie dagewesene Gewalt“?! Polizei, Politik & Presse im Rausch der ÜbertreibungDas wichtigste vorweg, weil die Kommentarspalten sicherlich jetzt bereits explodieren: Wir beim Volksverpetzer verurteilen Gewalt, selbstverständlich auch gegen Polizeibeamt*innen, die täglich für unsere Sicherheit sorgen. Jede*r Verletzte ist eine*r zu viel. Ich persönlich halte die deutsche Polizei für eine wichtige Institution. Ich habe ein paar Freunde bei der Polizei, die ich auch sehr schätze. Und ich wünsche niemandem etwas Schlechtes. Auch verurteile ich selbstverständlich die Randalen in Stuttgart, das mutmaßlich versuchte Tötungsdelikt gegen den Studenten und natürlich alle Sachbeschädigungen, Plünderungen und Verletzungen. Wer denn nicht?Ich empfinde es aber als extrem problematisch, wenn ich von einem wütenden Mob gezwungen werden soll, deswegen das faktisch belegbare racial profiling in der Polizei zu leugnen (mehr dazu), entgegen der eigenen BKA-Zahlen zu behaupten, Gewaltkriminalität gegen die Polizei hätte zugenommen (mehr dazu) oder dass die Vorfälle in Stuttgart eine Form der „nie dagewesenen Gewalt“ gewesen seien, wie es der Stuttgarter Polizeipräsident sagte und wie es vielfach zitiert wird (Quelle).
Die Polizei ist hier nicht neutral
Die Polizei ist NICHT neutral, wenn es um Auseinandersetzungen mit der Polizei geht. Das sage nicht ich, das sagt der Deutsche Journalistenverband: „Bei Auseinandersetzungen ist die Polizei Partei und nicht unparteiischer Beobachter“. Wenn ich Polizeimeldungen kritisch hinterfrage und sie nicht einfach nur abtippe, bin ich kein Autor eines „linksextremen Blogs“, der „Gewalt verharmlosen“ will, sondern verwende journalistische Standards, die die deutsche Presse anscheinend kollektiv über Bord wirft.Gewalt gegen Polizei?Dass die Gewaltkriminalität gegen Polizeibeamt*innen im vergangenen Jahr um 31,2% gesunken ist, mag bei solchen Schlagzeilen eine absurde Behauptung sein.
Tweets im LinkIch weiß, wie das klingt. Aber um diese Schlagzeilen zu erzeugen hat das BKA einfach eine ganz eigene Definition von „Gewalt“ verwendet, die ironischerweise Straftaten wie Mord und Totschlag NICHT beinhaltet. Ja, wirklich. Wenn man einfach nur die BKA-eigenen Definitionen von „Gewaltkriminalität“ heraussucht und mit den BKA-eigenen Zahlen von Straftaten gegen die Polizei vergleicht, kommt da ein Rückgang von 32,1% heraus. Wenn man alle Straftaten einrechnet, die das BKA nur bei der Polizei als „Gewalt“ definiert, nicht aber bei „normalen Bürger*innen“ (wie das explizit Nicht-Gewaltdelikt „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ §113 StGB), gab es lediglich einen Anstieg von 1,3%.
Und nicht von 8,2%, wie die Polizei und Herr Seehofer uns erzählt. Ganz ausführlich, mit allen Fakten und Belegen hat das der Kollege hier aufgedeckt:
Presse fällt auf Manipulation herein: Gewaltkriminalität gegen Polizeibeamte um 31,2 % gesunken!Es gibt aber die eindeutige Tendenz, nicht nur in der rechtsextremen Szene, die Vorfälle zu einem „Bürgerkrieg“ aufzubauschen, auch von der Polizei selbst. „Solche Szenen hat es in Stuttgart noch nie gegeben“, sagte der Polizeipräsident. Und das Zitat: Eine „nie dagewesenen Dimension der Gewalt“.
Wirklich?
Stuttgart, der 30. September 2010. Mindestens 164 Verletzte, andere sprechen von mindestens 400. Blutende Augen, Pfefferspray im Gesicht. Der „schwarze Donnerstag“ war eine Straßenschlacht, bei welcher die Polizei brutal die Stuttgart-21-Proteste niederschlug (Quelle). Oder einfach mal „Stuttgart Hooligans“ googlen. Wasserwerfer in Stuttgart im Jahr 2017. Es gab Verletzte, zehn Festnahmen. Gegen Fußball-Hooligans (Quelle). Ein Aufeinandertreffen von 170 Fußball-Hooligans erst Anfang März (Quelle). Aber gehen wir mal aus Baden-Württemberg weg. Köln 2014:
5000 Rechtsradikale Hooligans liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Hunderte gewaltbereite Nazis, die von der Polizei beobachtet werden (Quelle). Es wurden 44 Polizisten verletzt (Quelle). In Stuttgart am Wochenende waren es 19, nur einer davon dienstunfähig (Quelle). Oder erst vergangenen Monat in Sachsen: Mehrere Großeinsätze – man verhaftete ua. 25 Neonazis, die die Polizei mit Stangen & Rohren angriffen & Glasflaschen warfen. Sie beschädigten ein Polizeiauto, man fand Granaten & Messer (Quelle).
2016 überfielen 200 bewaffnete Neonazis einen ganzen Stadtteil in Leipzig, plünderten und zerstören (Quelle). „Offener Straßenterror“ 2015 in Leipzig: Straßenschlacht von der Polizei mit Autonomen, die einen Nazi-Aufmarsch verhindern wollten (Quelle). Oder die „Chaostage von Hannover“ 1995: 240 verletzte Beamt*innen und verletzte 200 „Punks“, Pflastersteine, brennende Barrikaden (Quelle). Und vieles, vieles mehr. Ich hab nur paar Minuten gegooglet. Die Öffentlichkeit hat das anscheinend alles kollektiv vergessen. Und sprechen wir mal nicht davon, dass erst im Februar ein rechtsextremer Terrorist bei einem Anschlag 9 Menschen ermordete. Vor einem Jahr war Halle und der Mord an Walter Lübcke. Was ist damit?
Wenn gefühlte Wahrheiten Mainstream werdenDas Problem ist, dass sich niemand traut (außer Volksverpetzer anscheinend), der gefühlten Wahrheit zu widersprechen, die jetzt „Mainstream“ ist. Weil es so wirkt, als würden wir uns gegen die Polizei stellen, und für Gewalt plädieren. Weil es so viel einfacher ist, diesen Strohmann auszupacken, anstatt die eigenen Vorteile zu hinterfragen. Weil nur noch Schwarz und Weiß existieren darf. Entweder ist etwas das größte Verbrechen oder harmlos. Nichts dazwischen. Wir plädieren nur für einen Mittelweg: Auf dem Teppich bleiben. Verurteilen, was passiert ist, ohne zu Eskalieren. Sagen, was ist. Nicht sagen, was sich anfühlt. Sprachlich. Die Fakten sind da. Selbst wenn wir dafür beschimpft werden. Und dass wir das bei Nazi-Fakes können und Applaus und Preise dafür kriegen, ist toll.
Aber wenn wir „linksextrem“ und „verblendet“ sind, sobald unsere Faktenchecks, die nur der DJV-Richtlinie treu bleiben, einmal Übertreibungen der Polizei selbst aufdecken, dann hat unsere Gesellschaft ein Problem. Wir können uns nicht aussuchen, wo wir mit gefühlten Fakten arbeiten. Bei rassistischen Fakes nein, bei Polizei-Übertreibungen ok? Wir machen die Arbeit nicht, um einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen. Sondern weil Leute unsere Arbeit mit Spenden unterstützen. Weil wir unser Bestes geben, um bei der Wahrheit zu bleiben. Und das trotz der Morddrohungen von Nazis, oder der Pöbeleien, wenn wir einfach nur Fakten wiedergeben, die selbst Presse, Politik und Polizei gar nicht so genau wissen wollen.
Der vollständige Beitrag hier:
https://www.volksverpetzer.de/schwer-ve ... stuttgart/