"Wann sind wir da?" fragten wir unsere Muddel, so nannten wir unsere Mutter, als der Zug wieder einmal eine Station hinter sich lies. Es war spät: "Wann sind wir da?" fuhren fort sie zu plagen. Da sagte sie es, oder richtig gesagt sie gab uns dieses Zeichen das wir am liebsten nicht wieder sehen wollten. Mit dem Zeigefinger auf dem Mund sagte sie nur: "Sccchhhh."
Diese Antwort ließ uns die Angst den Rücken runter laufen. Versuchen wir es wieder mal. Es war schon das dritte mal dass wir versuchten in den Westen zu kommen. Was passiert wenn sie uns wieder erwischen? Was ….Ich darf nicht daran denken. Der Zug blieb stehen und wir begaben uns in die dunkle Frühlingsnacht, in einem kleinen Ort der sich gerade auf den Schlaf vor bereitete.
Wir gingen an ein paar Häusern vorbei, die mit ihren warmen Lichtern sehr einladend aussahen. Bei einer Waldeslichtung schlugen wir unser Nachtlager auf. Die Baumkronen wiegten sich sachte im Wind, es war eine ungewöhnlich klare Nacht, über den Baumkronen sangen die Sterne ein Nachtlied für uns. Es war am Abend vor Ostern.
Der Ostertag war ein schöner Tag, wenn man ihn vom Wetter her betrachtet. Er fing so schön an, aber es sollte ein Schicksalstag werden. Doch davon wussten wir noch nichts.
Zwischen den Frühlingsblumen im Wald hatte der Osterhase in der Nacht Osternester versteckt. Wir Kinder, meine kleinen Geschwister die drei Jahre jünger sind als ich und damals 9 Jahre alt waren und mein großer Bruder der damals 19 Jahre alt war, sprangen herum und hatten bald alle Nester außer einem gefunden.
Verzweiflung spielgelte sich im Gesicht meiner Mutter. In diesen Nestern waren außer Schokoladenhasen auch gekochte Ostereier. Und diese waren in die Essensrationen eingerechnet die wir brauchten. Aus Sicherheitsgründen sind wir eine Station nach Magdeburg aus dem Zug raus, sie wollte nicht mit dem Zug zu nahe an die Grenze fahren. Sie hatte ausgerechnet dass wir die Grenze in zwei Tagen zu Fuß erreicht haben sollten. Und für diese zwei Tage hatte sie Essen eingepackt. Jetzt fehlte ein Teil, aber das war nicht das Schlimmste was uns an diesem Tag passierte. Zuerst mal packten wir zusammen was wir hatten und fingen unsere Fußwanderung durch den Wald zum nächsten größeren Ort an.
Aber Wälder sind verräterisch. Ein Stieg gleicht dem anderen und alle Bäume sehen gleich aus. Alle Wege führen irgendwann aus dem Wald heraus, aber in diesem Wald schienen alle Wege im Kreis zu gehen. So kam es uns auf jeden Fall vor, denn wie wir auch gingen landeten wir immer am selben Platz, irgendwo im WalNachdem wir so fast den ganzen Tag im Kreis wanderten und den richtigen Weg suchten sah die Zukunft nicht gerade "golden" aus für uns. Der "goldene Westen" schien hier noch weiter weg als Görlitz wo wir bis dahin gewohnt hatten. In letzter Verzweiflung fragte meine Mutter ein alten Herren der lieb aussah. Sie wollte den Weg zu einem Ort, dessen Namen ich heute nicht mehr weiß, wissen. (Wir hatten aber Kompass dabei und müssen uns in Richtung Westen gehalten haben. Wenn man auf der Karte schaut ist Haldensleben wohl der Ort wo wir den Zug verlassen haben und sind dann in den Wald westlich vom Ort. Bis nach Altenhausen sind es zwischen 6 und 10 km also eine gute Stunde zu Fuß. Nach meinen Aufzeichnungen wollte sie bei Marienborn über die Grenze, oder auf jeden Fall in dessen Umgebung.)
Der Mann war erst ein bisschen misstrauisch. Meine Mutter versuchte zu erklären dass sie zur Hochzeit ihrer Tochter wollte und es liebt zu gehen, nicht zu fahren. Diese Erklärung hatte sie immer benutzt wenn jemand gefragt hat. Der Herr ging also vor uns weiter und versicherte uns den Weg zu zeigen. Irgendwie wurde meine Mutter auch misstrauisch und als der Weg sich teilte, zeigte sie mit Hand und Fingersprache dass wir abweichen. Fluchs verschwanden wir und versteckten uns in einer Schonung die meine Mutter gesehen hatte als wir noch umher irrten.
Die Bäume in der Schonung waren hoch gewachsen und ließen einen angenehmen Platz zum durchstreifen. Aber wie jede Schonung war sie sehr licht und man konnte von einem Ende zum Anderen sehen. Während wir nach einem guten Versteck suchten stießen wir auf eine Kule mitten zwischen den Bäumen. Ich nehme an dass unser Schutzengel irgendwann mal die Kule für uns vorbereitet hatte. Sie war groß genug für uns alle und auch tief genug um nicht gesehen zu werden. Wir waren hungrig und müde aber vor allem hatten wir Angst.
Diese Angst spielte mein Leben lang ein Schnäppchen mit mir, oder besser gesagt mit meinem Erinnerungsvermögen. In der Erinnerung sehe ich mich nämlich wie ich über die Kante der Kule schaue und am Waldrand viele Menschen sehe. Diese suchten nach uns, dachte ich.
Heute weiß ich dass es vielleicht viele Spaziergänger dort gab, es war ja Ostersonntag, aber sie waren eben nichts anderes als Spaziergänger. Meine Phantasie hatte sie mit Funkgeräten (Walky Talkies) und Motorrädern versehen und hektisch suchend. Meine Mutter meinte aber dass sie uns gefunden hätten wenn sie gesucht hätten. Ich glaubte immer dass sie nicht kamen weil sie durch den Wald durch sehen konnten und da war keiner da. Noch heute verstehe ich nicht wie meine Erinnerung alles so dramatisch darstellte. Ich nehme an dass die Angst entdeckt zu werden eine Rolle spielte. Was für ein Spaßmacher die Erinnerung manchmal sein kann.
Während wir uns vor der Welt versteckten aßen wir Butterbrot und Eier und hielten uns schön unter dem Erdniveau. Nach einer langen Wartezeit haben wir unseren Weg fortgesetzt. Ich frage mich was der Mann dachte als er merkte dass er uns verloren hatte. Naja, wir gingen auf jeden Fall weiter. Der Tag ging dem Ende entgegen und die Leute in den Häusern machten sich für eine neue Nacht bereit während wir mit Hilfe vom Kompass weiter nach Westen wanderten.
Dieses Mal kamen wir aus dem Wald und bei einem Bauernhof fanden wir ein warmes Nachtlager in einem Strohhaufen.
Die Fluchtgeschichte geht hier weiter:
https://www.grenzerinnerungen.de/mackendorf_1967.htm