Erschütternd - Pflegende ohne Lobby

Erschütternd - Pflegende ohne Lobby

Beitragvon Interessierter » 4. Februar 2020, 12:26

Dieser Bericht eines betroffenen Pflegenden und seinem behinderten Sohn hat mich tief bewegt.

„Alter, halt' durch“

Für seinen behinderten Sohn Nico geht Arnold Schnittger auch in den Sitzstreik. Doch was wird, wenn er nicht mehr da ist?

Wenn das Kind 18 wird, ist das so das Alter, wo man es loslassen müsste, unter normalen Umständen. Dann geht das Kind aus dem Haus, heiratet, oder will eine eigene Wohnung haben. Bei Eltern behinderter Kinder ist das der Augenblick, wo man überlegt, gebe ich das Kind, mein Kind, ins Pflegeheim oder nicht. Das schaffen viele nicht, ich zum Beispiel auch nicht, und das ist eine ganz kritische Sache. Es gab in der Vergangenheit viele schreckliche Ereignisse, wo die Eltern, meist die Mutter, schon hochbetagt ihr 40-, 50-jähriges Kind noch versorgen, sie klappt irgendwann zusammen und dann sitzt das Kind neben der Leiche oder beide begehen Selbstmord. Da muss man sehen, dass man den Absprung und das Loslassen rechtzeitig realisiert.

Nico hat einen ganz besonderen Zuwendungsbedarf, ich bin überzeugt, dass er den in einem Heim nicht bekommt, bei allem Wohlwollen, das hängt mit der Profitorientierung zusammen. Da kam plötzlich die Idee, wie wäre es mit einem Bauernhof und man macht es mit mehreren Eltern und baut ein Konstrukt, das die Kinder auch im Alter versorgt sind. Daher auch der Name „Nicos Farm“. Dann habe ich aber sehr schnell festgestellt, dass wir dazu viele Familien brauchen.

Ich wandere ja immer wieder mit Nico, um auf die Situation pflegender Angehöriger aufmerksam zu machen. Als wir zum Bodensee gewandert sind, kamen wir durch Amelinghausen, da kam der Bürgermeister auf uns zu und hat uns zum Kaffee eingeladen. Er sagte: Ich habe ein Grundstück und so eine Einrichtung wie Nicos Farm suche ich schon seit Jahren für meine Gemeinde, guckt euch das doch mal an.

Wir hatten zu der Zeit noch einen Baubetreuer, einen älteren Herrn, mit allen Wassern gewaschen, der wollte uns dabei unterstützen. Im ersten Anlauf sind wir kläglich gescheitert. Die N-Bank, die hat sich unser Konzept angesehen, klar, das finanzieren wir. Dann haben wir, das hat zwei Jahre gedauert, alles entwickelt, ein Projekt von zehn Millionen. Wir haben das der Bank vorgelegt, die prüfte ein halbes Jahr und sagte: Wir haben vergessen, euch zu sagen, dass ihr natürlich einen Bürgen braucht. So, wo kriegen wir jetzt einen Bürgen her für zehn Millionen Euro?

„Machmal beiße ich in die Tischkante“

Ich habe alle möglichen Mäzene angesprochen, Otto-Versand, Herrn Kühne und so weiter, haben alle dankend abgelehnt. 14 Tage später lese ich in der Zeitung, dass einer von denen dem HSV zehn Millionen Euro geschenkt hat. Wir haben versucht, andere Investoren zu finden, das ist uns leider nicht gelungen. Inzwischen gibt es eine neue Bürgermeisterin in Amelinghausen, wo man uns jahrelang das Grundstück bereit gehalten hat und da ich immer nicht in die Puschen gekommen bin und es nicht geregelt bekam, haben sie gesagt, jetzt verkaufen wir das an einen anderen Investor.

Manchmal beiße ich auch in die Tischkante. Meine Energie, die hole ich mir von Nico, ohne ihn hätte ich schon längst hingeschmissen. Da hätte ich gesagt: Kommt Leute, wenn ihr mich nicht unterstützt, dann müsst ihr sehen, wie ihr klar kommt. Das kann ich aber nicht machen, die Frage ist immer noch, was wird mit Nico, wenn ich nicht mehr bin.

Er war schon als Baby immer fröhlich, aber er hätte anfangen müssen, zu robben oder sich zu bewegen, das hat er alles nicht gemacht, nur in der Ecke gesessen und sich schlapp gelacht. Dann geht man zum Kinderarzt, ach, da ist alles in Ordnung, Spätzünder, dann machen wir ein bisschen Frühförderung, dann kommt das schon. Ja, kam aber nicht. Nach einem Jahr war ziemlich sicher, dass irgendetwas faul ist, dann haben wir Untersuchungen durchgeführt, aber alles ohne Befund, möglicherweise hat Nico zu wenig Sauerstoff bei der Geburt gekriegt.

Man muss sich, wenn man ein behindertes Kind hat, alles erarbeiten. Die meisten fallen erst mal, wenn das Kind die Diagnose hat, in ein tiefes Loch. Wissen gar nicht, wo sie hingehen sollen, welche staatlichen Hilfen gibt es, wo kann ich Anträge stellen, das sagt einem keiner. Wenn ich zum Amt gehe und sage, ich habe ein behindertes Kind, dann zucken sie mit den Schultern. Da ist keiner, der sagt: Mensch, du kannst Verhinderungspflege beantragen oder dies oder jenes. Wenn man ein behindertes Kind kriegt, braucht man einen guten Kinderarzt und einen guten Rechtsanwalt, das ist so die Grundausstattung.

Ein Gutachten: das Kind ist immer noch behindert

Es war sehr nachteilig, dass Nicos Mutter sehr krank geworden ist, sie konnte nicht mehr arbeiten, war in der Klinik und in der Reha, und ich konnte dann auch nicht mehr arbeiten, und dann ging es los mit der Behördenwillkür. Unsere Gesellschaft ist immer noch darauf ausgelegt, dass die Mutter alles tut. Die Mutter muss die Kinder versorgen, wieso denn der Vater.

Jetzt habe ich Rente, jetzt bin ich fein raus. Aber die ganzen Jahre mit Hartz IV musste ich alle halbe Jahre ein Gutachten vorlegen, dass das Kind immer noch behindert ist und mich fragen lassen, warum ich nicht arbeite. Gehen Sie neben der Pflege doch zur Arbeit, hieß es. Das ist nicht eine Sache, die mich allein betrifft, sondern das betrifft alle pflegenden Angehörigen. Ich hatte noch das Privileg, dass Nico Pflegegrad fünf hat, da steht man dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Wie auch, bei einer 24-Stunden-Pflege. Das Amt möchte es aber trotzdem. Dieser Druck, der da aufgebaut wird, immer mit dem Hinweis auf Sanktionen.

Mit Hartz IV hatte ich 4,60 Euro am Tag für Frühstück, Mittag-, Abendessen, da kann man keine großen Sprünge machen. Es wirkt sich bis ans Lebensende aus. Dadurch konnte ich keine Rentenbeiträge zahlen. Ein bisschen ist durch die Pflegekasse reingekommen, aber das reicht nicht aus, um eine anständige Rente zu bekommen.

Man muss sich alles neu erkämpfen. Die haben gesagt, ihr könnt einen Rollstuhl beantragen und dann geht man zur Krankenkasse und dann sagen die: eine Karre genügt auch.

Wenn man in eine Behörde kommt, ist nicht die Frage, was können wir für Sie tun, sondern erst mal: Stimmt das auch, haben Sie überhaupt ein Kind, ist das wirklich behindert. Es ist ein Misstrauensverhältnis.

Hier geht es weiter:
https://taz.de/Ohne-Lobby-Pflegende/!5639094/

So etwas lesend, schwillt mir der Kamm. Ich nenne Teile dieses Verhaltens BEHÖRDENWILLKÜR. Sind die betroffenen Pflegenden und ihre zu pflegenden Angehörigen nicht schon genug gestraft?
Interessierter
 

Re: Erschütternd - Pflegende ohne Lobby

Beitragvon Volker Zottmann » 4. Februar 2020, 12:40

Wilfried, so ist aber der Alltag!
Ich kenne es durch meine Schwägerin mit ihrem behinderten Sohn. Er ist fast so alt wie ich. Imer noch betreut zu Hause. Mein Schwager nun schon verstorben.... Was, wenn die Schwägerin sich verabschiedet? Das lässt sie einfach nicht ruhen.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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