Als die Angst in Leipzig die Seite wechselteWas am 9. Oktober 1989 in Leipzig geschah, wollte die DDR-Führung geheim halten. Doch am Tag danach gingen Fernsehbilder der Montagsdemonstranten um die Welt. Das ist auch einem Mann aus Neubrandenburg zu verdanken: Aram Radomski. Montag, 9. Oktober 1989. Volkspolizei, Volksarmee, Kampfgruppen und die unzähligen Herren Müller von der Staatssicherheit stehen in Habachtstellung. Mannschaftswagen, Schützenpanzer, Wasserwerfer – wer sieht, was ab Mittag in Leipzig aufgefahren wird, bekommt es mit der Angst zu tun. In der Nikolaikirche, wo seit Anfang der 1980er-Jahre Friedensgebete abgehalten werden, finden sich seit Monaten immer mehr Menschen ein. Am 4. September sind sie zum ersten Mal durch die Stadt zur Thomaskirche gezogen. Von Woche zu Woche werden es mehr.
Was wird passieren am 9. Oktober? Am Montag zuvor hatte es Verletzte gegeben. Was diesmal geschieht, soll um jeden Preis unter der Decke bleiben. Die DDR-Führung will die Berichterstattung verhindern. Die Staatsmedien hat sie unter Kontrolle, Westjournalisten wurde Leipzig-Verbot erteilt, die Informationshoheit scheint gesichert.
Auf dem Turm der Reformierten Kirche Leipzig hocken an jenem Tag zwei Männer. Noch bevor die Kirche um 16 Uhr geöffnet wurde, sind sie hinaufgestiegen. Sie halten sich verborgen und warten. „In der Taubenscheiße“, sagt Aram Radomski und lacht. „Schön war es nicht. Kalt war’s. Wir wussten nicht, was kommen würde.“ Der Mann, 1963 in Neubrandenburg geboren, lebt damals in Berlin, im Prenzlauer Berg.Aram Radomski ist Fotograf und mit seinem Freund Siegbert Schefke nach Leipzig gekommen. Sie haben eine aus dem Westen eingeschmuggelte Videokamera dabei, die sie vom Kirchturm auf die Straße richten. Hier sollen am Abend die Demonstranten vorbeikommen. Die Staatssicherheit hat die beiden seit Längerem auf dem Schirm, sie werden als Oppositionelle geführt. „Ich habe mich als die freie Presse verstanden, die es damals nicht gab“, sagt Aram Radomski. „Ich habe die Endphase von etwas fotografiert. Manchmal stört es mich, wenn ich deswegen zu einem Symbol gemacht werde. Das bin ich nicht.“
Aus Versehen heißt es, ein Adolf sei geborenAuf die Welt kommt er im Februar 1963, kurz vor der Hochzeit seiner Eltern.
Die Gemengelage formt einen aufmüpfigen Jungen, der in der Schule aneckt. In Klasse 9 werfen sie ihn raus, statt Abitur macht er eine Lehre zum Agrotechniker, „was ich nie wollte“.
Er ist gerade 15, als die Staatssicherheit versucht, ihn für Spitzeleien gegen seinen Vater zu gewinnen. Ohne Erfolg. „Bei mir hatte sich schon eine leicht ambivalente Haltung zur DDR manifestiert“, sagt er. Er zählt zum Dunstkreis des damaligen Puppentheaters in Neubrandenburg, Künstler und Paradiesvögel, die im Zuge der Kampagne „Kultur aufs Land“ in der aufstrebenden Bezirksstadt gelandet waren.
Am 7. Oktober ist Aram Radomski mit seinem Fotoapparat von früh bis spät auf den Beinen. „Morgens bin ich mit der Pappe nach Schwante gefahren, wo die SPD gegründet werden sollte.“ Später fotografiert er die Parade zum 40. Jahrestag der DDR, den Fackelzug der Freien Deutschen Jugend, die Gorbi-Gorbi-Chöre am Palast der Republik.
Am 9. Oktober starten sie früh nach Leipzig. Erprobte Tricks helfen, die Genossen der Staatssicherheit abzuschütteln. Bei Siegbert Schefke zu Hause täuschen Zeitschalter seine Anwesenheit vor. Er verlässt das Haus übers Dach. Danach wechseln sie auch noch das Auto. Angst spürt Aram Radomski nicht: „Ich war irgendwie wie in einem Rausch. Adrenalin.“Auf der Autobahn überholen sie einen Militärkonvoi. An der Stadteinfahrt in Leipzig stehen Uniformierte mit Ferngläsern, in der Innenstadt bewaffnete Truppen, Polizei, Hundestaffeln, „mindestens 20, 30 Schäferhunde“, schwere Einsatztechnik. „Wir mussten einen Ort suchen, von dem wir eine gute Sicht haben.“ Sie treffen einen Bekannten, Ulrich Schwarz, den DDR-Korrespondenten des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Als einziger Vertreter der Westmedien hat er es trotz der Auflage des Auswärtigen Amtes gewagt, nach Leipzig zu kommen. Sie verabreden, gemeinsam nach Berlin zurückzukehren. Für den Fall, es würde Bildaufnahmen geben, könnte Schwarz sie gleich nach Westberlin bringen.Beim Pfarrer der Reformierten Kirche an Leipzigs großer Hauptstraße finden Aram Radomski und Siegbert Schefke Einlass. Der Kirchenmann versteht nur allzu gut, was Bilder bewirken können und wie viel Mut dazugehört, sie zu bekommen. Bevor er die Kirche für die Nachmittagsbesucher öffnet, schließt er den Aufstieg zum Turm auf.
Stunden später schalten die Männer hoch oben die Kameras ein. Es war in den Stunden zuvor gespenstisch leer gewesen auf den Straßen. Gegen 18 Uhr hatten die Lautsprecher des Leipziger Stadtfunks geknackt, der öffentliche Plätzen beschallen kann. Kurt Masur, Dirigent des Gewandhaus-Orchesters, verlas einen Aufruf zur Besonnenheit. Danach bleibt es lange still.
Erst ein fernes Dröhnen, dann die SprechchöreSchließlich hören Aram Radomski und Siegbert Schefke ein Dröhnen anschwellen. Weit voraus, aus einer Kurve schiebt sich ein Menschenzug aus der Dunkelheit direkt auf ihre Kameras zu. „Wir sind keine Rowdys“, rufen die Demonstranten, um die Zeitungsmeldungen Lügen zu strafen. Und schließlich: „Wir sind das Volk.“ Aram Radomski spricht ein großes Wort aus: „In diesem Moment wechselte die Angst die Seite.“ Und ihre Kamera läuft mit: Den beiden Männern auf dem Kirchturm gelingen die einzigen Bilder von der historischen Montagsdemonstration in Leipzig – Bilder, die offenbaren, wie es brodelt in der DDR im Herbst 1989, die sich ins kollektive Gedächtnis brennen werden als Beweis für die friedliche Revolution.Wenig später rollen drei glückliche Männer in einem Trabant zurück nach Berlin. In Schönefeld steigt Spiegel-Journalist Ulrich Schwarz in seinen Westwagen um und fährt über die Grenze. Als kurz darauf Roland Jahn im SFB-Studio das Filmmaterial sieht, kommen ihm die Tränen, wie er später bekennt. Am 10. Oktober werden die Szenen im Westfernsehen gezeigt, getarnt als Arbeit eines italienischen Fernsehteams.
Den vollständigen Bericht und 7 Fotos findet man hier:
https://www.nordkurier.de/kultur-und-fr ... 87010.htmlAuch das Drumherum vor und während dieser Aktion ist interessant und lesenswert und erinnert daran, dass es trotz dieser wirklich
schrecklichen " Coronazeit " auch noch andere berichtens- und lesenwerte Ereignisse gibt und gab und unser tolles Forum nicht erst bei " Aktuelle Ereignisse " anfängt.