von Merkur » 15. April 2019, 19:26
Fortsetzung:
Warum war das so?
Das war schlicht das Verdienst des besonnenen Handelns der Mitarbeiter unseres Ministeriums, nicht nur an diesem Tag, sondern schon in den Tagen davor, als überall in der Republik die Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen besetzt wurden. Uns war schließlich klargeworden, dass die DDR nicht mehr zu retten war. Jedes Blutvergießen wäre unverantwortlich gewesen. Wir waren dazu ausgebildet, die DDR nötigenfalls auch mit der Waffe gegen einen Angriff von außen zu verteidigen. Nicht jedoch waren wir darauf vorbereitet, auf das demonstrierende Volk zu schießen. Die Friedlichkeit dieser Ereignisse ergab sich darum vor allem aus der Einstellung der MfS-Mitarbeiter zu ihrem Staat und zur Bevölkerung. Wir lebten schließlich nicht in Kasernen, wir lebten in den Wohngebieten mit den Menschen zusammen, die nun vor den Toren unserer Einrichtungen standen. Ich bin in meinem Wohngebiet in Frankfurt (Oder) regelmäßig mit meinem Hund spazieren gewesen, ohne Personenschutz, denn ich hatte nie das Gefühl, dass meine Nachbarn mich bedrohten.
Beruhte diese »Friedfertigkeit« auf Befehlen und Weisungen von Partei und Regierung?
Dass ich nicht lache! Die Partei wollte bekanntlich längst nichts mehr von uns wissen, der Staatsapparat löste sich vor unseren Augen auf. Wir haben uns so verhalten, wie unsere Einstellung zu unserem Land das gebot. Das war nicht immer leicht. Als ich im Dezember 1989 den Demonstranten vor der Bezirksverwaltung in Frankfurt gegenüberstand, sah ich in so manches hasserfüllte Gesicht und spürte, dass ein Funke genügen würde, um eine Katastrophe auszulösen. Doch wir blieben ruhig und besonnen. Am 15. Januar 1990 war das nicht anders. Angst hatte natürlich meine Frau. Sie machte sich verständlicherweise große Sorgen um mich, zumal sie mich telefonisch nicht erreichte. Erschwert wurde unsere Kommunikation zusätzlich dadurch, dass wir, gerade von Frankfurt nach Berlin gezogen, zu Hause keinen Anschluss hatten, so dass meine Frau zur Telefonzelle musste, wenn sie anrufen wollte. Sie rief Wolfgang Schwanitz an, der seinerzeit das Amt für Nationale Sicherheit leitete. Der sagte ihr, sie müsse sich nicht sorgen, ich sei bei den sowjetischen Freunden in Karlshorst. Das war zwar gut gemeint, jedoch nicht wahr. Schließlich sah Christa mich im Fernsehen - sie starb fast vor Angst. Was mich an diesem 15. Januar 1990 am meisten geärgert und maßlos enttäuscht hat, war die Wurstigkeit, mit der Ministerpräsident Hans Modrow uns behandelt hatte. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen, zumindest einen Beauftragten zu uns zu schicken, um zu fragen, wie es uns geht, ob wir Hilfe brauchten. Schließlich waren wir ja seine Mitarbeiter. Das werde ich dem Mann nie verzeihen! Schließlich war er mein Vorgesetzter, sowohl als staatlicher Leiter als auch als Genosse.
Dieser Tag brachte für mich auch die erste Begegnung mit westlichen Medien. Ein Offizier der Volkspolizei fragte bei mir an, ob ich einem Fernsehteam aus der BRD einige Fragen beantworten wollte. Ich sah keinen Grund, es nicht zu tun. Auf diese Weise lernte ich den 24jährigen Georg Mascolo kennen, damals Berufsanfänger, heute ein profilierter Journalist. Da die Chemie zwischen uns stimmte, das Team sich sachlich und höflich benahm, war ich es auch. Ich bot Kaffee und später auch Wodka an. Beides wurde gern angenommen. Ganz uneigennützig war meine Gastfreundschaft allerdings nicht, denn ich rechnete damit, dass ich durch das westliche Fernsehteam vor Überraschungen durch Demonstranten geschützt sein würde. Unsere freundschaftliche Verbindung, die am 15. Januar 1990 durch den Besuch von Mascolo in meinem Dienstzimmer entstand, hält trotz aller Turbulenzen, die das Leben seither mit sich brachte, bis heute.
In verschiedenen Medien wurde berichtet, Sie seien an diesem Abend in Ihrem Dienstzimmer schlafend angetroffen worden.
Mir war an diesem Abend wirklich nicht nach Schlafen zumute! Als kommandierender General war ich mir meiner Verantwortung bewusst. Nachdem das alles vorüber war, habe ich mir erst einmal ein Bild von der Lage gemacht. Die Meldungen der einzelnen Diensteinheiten waren recht entspannt. Einzig die Spionageabwehr, die Hauptabteilung II, meldete, dass versucht worden sei, in ihren Büros Panzerschränke mit brisantem Material aufzubrechen. Im Sozialtrakt hatten Vandalen gewütet. Der Sachschaden war immens. Als ich dort eintraf, waren bereits Vertreter der Bürgerkomitees aus den Bezirken damit beschäftigt aufzuräumen, sichtlich erschüttert über die Verwüstungen, die ihr Aufruf zu einer »phantasievollen Demonstration« zur Folge hatte - so hatten sie sich das sicher nicht vorgestellt. Generell muss ich feststellen, dass die Vertreter der verschiedenen Bürgerkomitees, die ich während meiner Tätigkeit erlebte, vor allem heillos überfordert waren. Sie sahen in allem, was wir taten, nur Ranküne alter Seilschaften, die Geld, Güter, Waffen und vor allem Akten zur Seite schaffen wollten. Dass wir, die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, damit beschäftigt waren, das Ministerium abzuwickeln und selbst Zukunftsängste hatten, kam den selbsternannten Bürgerrechtlern gar nicht in den Sinn. Letztlich, man verzeihe mir das derbe Wort, waren sie die nützlichen Idioten, die die Lücke füllen mussten, bis die Politprofis aus Bonn das Heft des Handelns in die Hand nehmen konnten.
Aber nahm das Verhängnis nicht bereits seinen Lauf, als man seitens der Regierung darauf verzichtet hatte, trotz dieses »Demonstrations«-Aufrufs geeignete Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen?
Wir waren damals formal noch ein souveräner Staat. Der Modrow-Regierung standen alle Möglichkeiten zur Verfügung - vom Demonstrationsverbot bis zum verstärkten Polizeischutz -, um eine Eskalation der Ereignisse zu vermeiden. Das tat sie nicht, weil sie es sich nicht mit dem Runden Tisch verderben wollte, und weil, ich verweise da auf Egon Krenz oder Markus Wolf, das MfS als Prügelknabe herhalten sollte, um den Druck von der SED-Nachfolgerin PDS zu nehmen. Und als einer, der mittendrin war, sage ich Ihnen, die Sache war derart aufgeheizt, dass sie schnell hätte kippen können. Und dann hätte es Tote gegeben - auf beiden Seiten! Ich frage mich heute noch, ob diese »Demonstration« ordentlich angemeldet worden war, wer sie gegebenenfalls genehmigt und mit welchen Auflagen versehen hatte. Das AfNS war ein militärisches Organ. Seine Gebäude standen damit unter besonderem Schutz. Die DDR-Regierung hatte den Auftrag, das Gelände in Berlin-Lichtenberg weiträumig abzusperren. Der energische Angriff auf die Panzerschränke der Spionageabwehr belegt meines Erachtens deutlich, dass hier gegnerische Dienste versuchten, ihr Schäfchen ins trockene zu bringen. Wenn der so oft zitierte »Volkszorn« in dieser Nacht unterwegs gewesen wäre, so hätte er sich eigentlich gegen die Hauptabteilung XX richten müssen. Doch für deren Akten interessierte sich niemand, genauso wenig wie für die Abteilung XII, das Archiv und die Registratur des MfS.
War von dem »Schild und Schwert« nicht zumindest der Schild übriggeblieben, um sich an diesem Abend zu schützen?
Für die Mitarbeiter des Amtes für Nationale Sicherheit stellte sich selbstverständlich die Frage, was es denn noch zu verteidigen gäbe. Klar: Unser Leben und das Leben unserer Familien hätten wir bedingungslos geschützt. Doch den Staat verteidigen, der uns zu »Buhmännern«, »Blitzableitern« und »Schmuddelkindern« machte? Da die Grenze nach Westberlin am 9. November unter chaotischen Bedingungen geöffnet worden war, blutete die DDR förmlich aus. Die Sowjetunion, vierzig Jahre lang unser wichtigster Verbündeter, ließ die DDR im Stich, die Regierung Modrow hatte das Heft des Handelns längst nicht mehr in der Hand. Wir fühlten uns von dieser Regierung verraten. Wen oder was sollten wir also schützen, außer uns selbst, unsere Familien und unsere IM?
Nun heißt ja Geheimdienst nicht nur Geheimdienst, weil er im verborgenen agiert, sondern vor allem, weil er Geheimnisse sammelt. Hätte man dies nicht nutzen können, um die Öffentlichkeit in den 1990er Jahren darüber zu informieren, welcher Angriffe von westlicher Seite man sich hatte erwehren müssen?
Wir hätten zeigen können, wie gegnerische Dienste in der DDR aktiv waren, wo sie einzudringen versuchten und so weiter. Doch Günther Kratsch, der Chef der Spionageabwehr, hatte sich in den 1990er Jahren geweigert, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, wie Werner Großmann berichtete. Es hätte uns allen sicher sehr geholfen. Auch Horst Männchen, der Chef der Funkaufklärung des MfS, hätte viel erzählen können. Die Hauptabteilung III, der er vorstand, hinterließ 1989 Zehntausende Tonbänder, auf denen Telefongespräche der politischen, militärischen und Wirtschaftselite der Bundesrepublik mitgeschnitten worden waren. Ihr Inhalt soll so »schrecklich« gewesen sein, dass sie ohne Auswertung sofort vernichtet wurden. Doch Horst Männchen arbeitete nach 1989 lieber mit dem Bundesverfassungsschutz zusammen, als dass er seinen ehemaligen Genossen geholfen hätte.
Selbstverständlich muss jeder seine individuelle Sicht bzw. Meinung haben und schreiben. Quelle: Augenzeuge.