Wie ein Schuss alles veränderte: Eine Geschichte aus einer der blutigsten Städte der Welt"70 Prozent der Freunde aus meiner Kindheit mussten Venezuela verlassen, sind im Gefängnis oder tot", sagt Armando.Maria: "Du musst sofort kommen!"
Armando: "Was ist los?"
Maria: "Kann ich nicht am Telefon sagen. Aber du musst sofort kommen!"
Armando: "Ist etwas Schlimmes passiert?"
Maria: "Ja. Aber ich kann dir jetzt nicht mehr sagen. Du musst kommen."
Maria vergaß an diesem Abend im Juli 2017 eine Sache zu erwähnen, als sie ihren Ehemann anrief: wohin er so dringend kommen musste. Und so fuhr Armando, 27 Jahre alt, Manager einer Obdachlosenunterkunft, dreifacher Vater, in die falsche Richtung durch Caracas. Jener venezolanischen Stadt, die seit Jahren eine der höchsten Mordraten der Welt aufweist. Er landete beim Haus seines Schwiegervaters, wo niemand wusste, was er dort eigentlich wollte.
Stattdessen hätte er auf der Intensivstation sein sollen, wo niemand wusste, ob Armandos einjähriger Sohn überleben wird.Kurz zuvor war ein Querschläger einer Schießerei in die Körper seiner Ehefrau und seines Kindes gedrungen. Die Kugel, die das Leben von Armando und seiner Familie für immer verändern sollte. Die Kugel, die genauso gut jeden anderen in Caracas hätte treffen können. Die Kugel, die Armando in die Schweiz bringen sollte."70 Prozent der Freunde aus meiner Kindheit mussten Venezuela verlassen, sind im Gefängnis oder tot", sagt Armando. Heute gehört auch er zu diesen 70 Prozent. Armando heißt eigentlich anders, aber seinen richtigen Namen möchte er im Text nicht lesen, weil er unsicher ist, ob das sein weiteres Leben in der Schweiz beeinflussen würde. Jetzt sitzt er hier, in einem Berner Café, wo alles so anders ist als in Caracas. Wo er täglich versucht, eine neue Heimat zu finden, obwohl er 8.000 Kilometer von seiner Frau und seinen drei Kindern entfernt lebt, obwohl er die Sprache noch nicht spricht. "In Bern kannst du sorglos vor einem Café sitzen", sagt Armando. "In Caracas gehst du 200 Meter und könntest mit jedem Schritt dein Leben verlieren." Er wisse dort nie, wann und hinter welcher Ecke Gefahr lauere. "Das Einzige, vor dem ich mich hier fürchte", sagt Armando, "ist der Winter. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Winter erlebt."
Antímano. Offiziell: ein 150.000-Einwohner-Stadtteil von Caracas. Inoffiziell: ein weiteres Ghetto. Ein Viertel, von dem Einwohner sagen, dass du nur im eigenen Zuhause weißt, dass du überleben wirst. Hier entstehen YouTube-Videos, in denen Menschen in ihren Autos sitzen und kreischend davon rasen, weil auf der anderen Seite der Karosserie Menschen gelyncht werden. Hier fließt nur einmal wöchentlich Wasser. Armando ist hier geboren und aufgewachsen. Maria kannte die Regeln von Antímano nicht, als sie die behütete Vorstadt hinter sich ließ, um mit Armando zusammen zu leben.In Antímano heisst das Pendant zu "Schule, Lehre, Durchschnittsjob", was viele Schweizer Biografien eint, oft Schulabbruch, Gangster-Dasein, Tod. "Jeder, der sich nicht bewusst von Verbrechern distanziert, kann hier als Gangster enden", sagt Armando. Oft geschehe das aus einer existenziellen Kinder verpassen Schulstunden – häufig weil ihr Hunger andere Prioritäten vorgibt. Die Inflation betrug allein 2018 über eine Million Prozent – 2019 schätzt der Internationale Währungsfonds, soll es noch schlimmer werden. Notwendigkeit heraus: 82 Prozent der Bevölkerung Venezuelas leben in Armut.
Fast 3 Millionen Kinder verpassen Schulstunden – häufig weil ihr Hunger andere Prioritäten vorgibt. Die Inflation betrug allein 2018 über eine Million Prozent – 2019 schätzt der Internationale Währungsfonds, soll es noch schlimmer werden. "Du gehst jeden Tag zur Schule, hast keine Zeit, kein Geld und keine Jordans", sagt Armando. "Gleichzeitig siehst du einen Typen, der jeden Tag nur an der Strassenecke steht aber die krassesten Schuhe, das beste Motorrad und die schönsten Frauen hat." Viele würden sich dann fragen: Mache ich wirklich alles richtig, wenn ich nichts habe und einer wie der alles hat? Gangster würden so zu Helden, vor und nach ihrem Tod. "Triffst du einen Gangster, der 30 Jahre alt ist, ist das eine Ausnahme", sagt Armando. "Die meisten sterben zwischen 16 und 22."
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