"Im Ergebnis vom MfS gemeinsam mit Experten der Deutschen Reichsbahn geführter Untersuchungen in Knotenpunkten des Güterverkehrs der Deutschen Reichsbahn, besonders Rangierbetrieb, wurde eine Reihe von Problemen sichtbar, die negative Auswirkungen auf die Realisierung der volkswirtschaftlichen Transportaufgaben, die Bereitstellung von Transportkapazitäten sowie auf die Betriebssicherheit haben.(1)
Dazu im Einzelnen:
Die Mehrzahl der Beschäftigten im Rangierdienst kommt unter oft komplizierten Arbeitsbedingungen der wachsenden Verantwortung für die Erfüllung der Transportaufgaben nach und arbeitet mit hohem persönlichen Einsatz.
Dieser insgesamt positiven Tendenz wirken eine Reihe von Faktoren entgegen, die insbesondere auf Knotenpunkten des Güterverkehrs und Rangierbetriebes sichtbar werden. Sie bestehen u. a. vorwiegend in einer nicht ausreichenden Wirksamkeit der politisch-ideologischen und politisch-moralischen Erziehung, dem Nichtbeachten von Dienstvorschriften für den Rangierdienst und daraus resultierenden Verstößen gegen die Betriebssicherheit und die staatliche Sicherheit und Ordnung sowie in Hemmnissen bei der praxiswirksamen Nutzung von Rationalisierungsmitteln.
Trotz der zur angestrebten Stabilisierung der Lage in diesem Bereich erfolgten zeitweiligen Abordnung von 1 093 Angehörigen anderer Dienstzweige zum Rangierdienst und einer von den Beschäftigten dieses Dienstzweiges geleisteten Vielzahl von Überstunden kann die technologische Mindestbesetzung der Schichten nicht gesichert werden. (In der Anzahl der Beschäftigten auf den untersuchten 50 leistungsbestimmenden Güterbahnhöfen – Soll der Beschäftigten 4 479, Ist: 3 271 – sind die zeitweilig abgeordneten Arbeitskräfte bereits mit enthalten.)
Um zeitweilige Abordnungen durchzusetzen, müssen in einer Reihe von Fällen Dienstbefehle erteilt werden, da freiwillige Bereitschaftserklärungen nicht im erforderlichen Umfang erfolgen.
Die Ablehnungen werden besonders von jungen Eisenbahnern damit begründet, dass die Zeit der Abordnung einen Verlust für die Qualifizierung in ihrem eigenen Beruf darstelle.
Im Zusammenhang mit der Verweigerung für eine Abordnung zum Rangierdienst kam es zu einer Anzahl von Kündigungen. (So erfolgten z. B. im Bereich der Reichsbahndirektion Dresden in diesem Zusammenhang im Zeitraum 1979 bis 1981 insgesamt 100 Kündigungen.)
Darüber hinaus schätzen Experten der Deutschen Reichsbahn ein, dass fast durchgängig ein Trend zur Ablehnung von Überstunden festzustellen ist. Als Begründung wird häufig die Überbeanspruchung während der normalen Arbeitszeit aufgrund der bestehenden Unterbesetzung mit Arbeitskräften angegeben.
(Im 1. Halbjahr 1981 wurden z. B. von den Beschäftigten auf dem Bahnhof Magdeburg-Buckau zwischen 440 und 670 Überstunden geleistet, auf dem Bahnhof Senftenberg waren es zwischen 360 und 420 Überstunden.)
Infolge der nicht mehr gewährleisteten technologischen Mindestbesetzung mit Rangierpersonalen kam es wiederholt
– zur Nichteinhaltung der technologischen Zeiten für die Zugbildung und -auflösung,
– zu Abweichungen von vorgesehenen Gleisbelegungen und zum Rückstau von Güterzügen sowie
– zur Nichteinhaltung der Bahnhofsbedienungspläne.
Diese Erscheinungen führten zu Verzögerungen im Güterwagenumlauf, zu Verspätungen im Triebfahrzeugumlauf und im Güterzugdienst sowie zu Überschreitungen von Wagenaufenthaltszeiten auf den Bahnhöfen und in den Zusatzanlagen.
Wie die geführten Untersuchungen weiter ergaben, werden solche Fehlhandlungen auch aus dem Bestreben begangen, Mehrarbeiten zu umgehen, sich unzulässige Arbeitserleichterungen bzw. verlängerte Arbeitspausen zu verschaffen, teilweise verbunden mit gleichgültigem Verhalten gegenüber den Arbeitspflichten.
Nicht unerheblichen Einfluss auf diese Fehlhandlungen hat auch der Umstand, dass Rangierpersonale mit derartigen Denkweisen und Verhaltensweisen häufig nur über ein niedriges Bildungs- und Qualifikationsniveau verfügen (rund 22 % erreichten nicht den Abschluss der 8. Klasse bzw. sind Abgänger von Sonderschulen; rund 60 % sind lediglich im Besitz des Abschlusses der 8. Klasse; nur rund 18 % haben den Abschluss der 10. Klasse erreicht, und nur etwa 45 % der Rangierpersonale haben die Facharbeiterausbildung erfolgreich beendet).
Ein Teil der Beschäftigten im Rangierdienst ist darüber hinaus kriminell oder sozial gefährdet. (So sind insgesamt ca. 8 % der Beschäftigten vorbestraft, auf dem Grenzbahnhof Zittau, [Kreis] Görlitz, [Bezirk] Dresden, z. B. ca. 50 % der Beschäftigten.)
Gegen 20 % der im Rangierdienst Beschäftigten sind Disziplinarverfahren anhängig, hauptsächlich wegen Alkoholgenuss während der Arbeitszeit, Arbeitsbummelei/asoziale Lebensweise, Rowdytum und Eigentumsdelikten.
So mussten z. B. auf dem Bahnhof Magdeburg-Rothensee gegen 54 der insgesamt 70 im Rangierdienst Beschäftigten Disziplinarmaßnahmen eingeleitet werden.
Wie weiter festgestellt wurde, besteht an einer beruflichen Qualifikation seitens der Rangierpersonale ohne Facharbeiterabschluss wenig Interesse, da bei einem Abschluss keine nennenswerten finanziellen Verbesserungen eintreten. (Der Nettoverdienst – ohne Überstunden – eines Rangiermeisters und eines Rangierarbeiters differiert im Durchschnitt um 60 Mark pro Monat.)
Die nicht den Erfordernissen entsprechende Qualifikationsstruktur führt u. a. dazu, dass nicht ausreichend qualifizierte Beschäftigte oder Beschäftigte mit einer nicht ausreichenden Persönlichkeitsentwicklung (Leistungswillen, Organisationsvermögen, effektive Ausnutzung der Arbeitszeit) als Rangiermeister eingesetzt werden müssen (z. B. haben von 680 Rangiermeistern 176 keinen Facharbeiterabschluss bzw. haben 100 nicht einmal den Abschluss der 8. Klasse erreicht).
Aus vorgenannter Situation resultierend entwickelten sich Führungs- und Leitungspraktiken, bei denen Abweichungen von den Dienst- und Rangiervorschriften toleriert und als normal angesehen werden. Dadurch kommt es zur Missachtung von Kontrollaufgaben, es werden keine tiefgründigen Ursachenforschungen und Auswertungen von Verstößen durchgeführt und somit auch keine Grundlagen für eine systematische und zielgerichtete schadensverhütende Arbeit geschaffen.
Diese Situation hat neben der allgemein zu verzeichnenden Verschlechterung des Arbeitsklimas (Resignation und Gleichgültigkeit unter den Leitungskadern) auch negative Auswirkungen auf die Durchsetzung der notwendigen Arbeitsdisziplin und wird durch eine Reihe sogenannter Kompromisse – z. B. Duldung von Verstößen gegen Zugbildungsvorschriften, Duldung aller Arten von Disziplinlosigkeiten – gekennzeichnet, die sich nicht zuletzt in einem weiteren Ansteigen der Anzahl von Differenzwagen,2 Wagenfehlleitungen, Wagen- und Ladegutbeschädigungen und Bahnbetriebsunfällen widerspiegelt.
So sind im 1. Halbjahr 1981 auf den untersuchten 50 leistungsbestimmenden Güterbahnhöfen im Rangierbereich 761 Bahnbetriebsunfälle, 19 529 Differenzwagen, 1 902 Wagenfehlleitungen und 1 648 Wagen- und Ladegutbeschädigungen festgestellt worden.
Weitere Untersuchungen ergaben, dass der insgesamt hohe Arbeitskräftefehlbestand im Bereich des Rangierdienstes zu einer bestimmten Konzentration von Personen geführt hat, die kriminell gefährdet sind bzw. die sich nicht gesellschaftsgemäß verhalten.
Die Analyse von Erscheinungen der Kriminalität in den Knotenpunkten des Güterverkehrs ergab, dass besonders Eigentumsdelikte (Transportgutdiebstähle) begangen wurden. So mussten von Januar 1980 bis einschließlich Juni 1981 gegen insgesamt 284 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, davon gegen 63 Personen mit Haft (darunter befanden sich 56 Gruppenstraftaten) überwiegend wegen der Begehung von Straftaten gegen das sozialistische Eigentum. Weitere Straftaten bildeten Verkehrsgefährdung unter Einfluss von Alkohol sowie Rowdytum.
Aus weiter vorliegenden Untersuchungsergebnissen ist ersichtlich, dass die im Interesse einer effektiveren Gestaltung der Arbeit, zur Freisetzung von Arbeitskräften und zur Erhöhung der Rangierleistungen besonders auf den Knotenpunkten des Rangierbetriebes eingesetzten technischen Mittel (automatische Gleisbremsanlagen, Sprechfunkgeräte) nur ungenügend genutzt werden.
Von Experten der Deutschen Reichsbahn wird dazu eingeschätzt, dass z. B. die Sprechfunkgeräte sehr störanfällig sind und es aufgrund der territorialen Bedingungen im Funkverkehr zu Störungen kommt, sodass eine Sprechverbindung kaum möglich ist.
Die Wirksamkeit der Gleisbremsanlagen wird durch eine hohe Störanfälligkeit, wie z. B. unterschiedliche Bremsleistungen, Nachlassen der Bremsleistungen bei hoher Frequentierung sowie durch andere Störungen überwiegend infolge des Fehlens von Ersatzteilen oder Hebezeugen, beeinträchtigt (Versagen der Hydraulik – Dresden-Friedrichstadt; Ausfälle wegen nicht ausreichender Versorgung mit Messstreifen für die Steuerung der Gleisbremsen – Forschungs- und Entwicklungswerk Blankenburg; technologischer Verschleiß von Anlagen aufgrund von Überalterung – Karl-Marx-Stadt, Roßlau, Bitterfeld, Leipzig-Engelsdorf; Fehlen von Bremsleisten für elektrodynamische Gleisbremsen, die aufgrund des Materialeinsatzes einem hohen Verschleiß unterliegen).
Auf dem Bahnhof Karl-Marx-Stadt/Hilbersdorf 1979 eingebaute Kipphemmschuhanlagen werden von Rangierern kaum genutzt, da die zuverlässige Bedienung dieser Anlagen für den Bediener Gefahrenmomente mit sich bringt (von 100 Anlagen sind nur 60 einsatzfähig bzw. bedingt einsatzfähig oder mängelbehaftet).
Weitere Feststellungen ergaben, dass die Anzahl der im 1. Halbjahr 1981 eingetretenen Bahnbetriebsunfälle im gesamten Rangierdienst der Deutschen Reichsbahn gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres von 1 984 auf 2 019 angestiegen ist.
Ende 1.Teil