Vereitelte Flucht über Transitwege

Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon zonenhasser » 13. Oktober 2018, 11:31

Ich habe dieses Buch gelesen: Bild
Darin beschreibt eine Leipziger Ärztin ihren Fluchtversuch im Fenruar 1977 im Alter von 37 Jahren auf der Autobahn Leipzig-Berlin. Mit dem Fluchthelfer war vereinbart, dass sie mit ihrer 8-jährigen Tochter an einer bestimmten Stelle an der Autobahn in den Kofferraum des Fluchtwagens steigen sollte. Am Tag zuvor erkundete sie die Gegebenheiten. Ein Polizist, der mit seinem Moped neben der Autobahn Streife fuhr, bemerkte sie mit ihrem Trabant, verständigte seine Zentrale, und die Ärztin wurde festgenommen. Ihr wurde auf den Kopf zugesagt, dass sie flüchten wollte. Da sie zu Hause schon die mit eindeutigen Fluchtsachen wie z. B. Urkunden u. a. gepackt hatte und vermutete, die Stasi hätte schon illegal ihre Wohnung durchsucht, gab sie die Fluchtabsichten zu. Sie musste ein Jahr in Hoheneck verbringen, wurde freigekauft, und ihre Tochter konnte nach langem Kampf nachkommen (sie hatte beim geschiedenen Mann gewohnt). Die Ärztin konnte sich im Westen ein erfolgreiches Leben aufbauen, sie wurde Professorin und heiratete wieder.

Jetzt meine Fragen:

Wie hatte sich der Fluchthelfer die Aufnahme der Flüchtlinge auf der Autobahn vorgestellt? Es gab ja keinen Pannenstreifen auf DDR-Autobahnen - also schon von daher gefährlich, am Rand anzuhalten. Es war natürlich viel weniger Verkehr auch auf den Transitautobahnen als heute. Aber war nicht das Risiko, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer die Aktion bemerkte und die Polizei verständigte sehr hoch?
Die großen Rastanlagen waren natürlich lückenlos überwacht und wahrscheinlich wäre es auch zu gefährlich gewesen, einen kleinen Parkplatz zu nutzen, weil da jederzeit Autofahrer einfahren konnten. Aber es war doch nicht jede Abfahrt 24 Stunden unter Kontrolle. Hätte nicht der Fluchthelfer da kurz abfahren und halten können?
War die Vermutung der Ärztin wahrscheinlich, die Stasi hätte schon ihre Wohnung illegal durchsucht? Denn einen offiziellen Durchsuchungsbefehl ihrer Wohnung vom Gericht zu bekommen, nur weil eine Frau tagsüber neben der Transitautobahn angetroffen wurde und keine glaubwürdige Erklärung dafür abgeben konnte, halte ich selbst in der DDR für fragwürdig.

Das Ganze interessiert mich deshalb so, weil mir von einem ehemaligen Kommilitonen, der über den Knast in den Westen freigekauft worden war, eine kommerzielle Fluchthilfe angeboten worden war. Das Risiko erschien mir jedoch zu groß, und ich lehnte ab.
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Re: Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon karnak » 13. Oktober 2018, 14:10

Es ist eine der vielen Legenden, dass die Transitstrecken einschließlich der Rast und Parkplätze lückenlos überwacht waren, dazu war das MfS nicht in der Lage. Bei den Fluchthellfern gab zum Anderen 3 Kategorien, es gab die privaten Schleuser die das einmal taten um einen Bekannten oder Verwandten auszuschleusen, die hatten keine Erfahrungswerte und gingen die Sache recht naiv und unbedarft an, die hatten natürlich die schlechtesten Karten und liefen am Ehesten in die aufgestellten Fallen. Sie konnten sich nämlich in dieser Zeit nicht wirklich vorstellen, dass das MfS mit einem entsprechenden Personaleinsatz dagegen vorging, dass wurde zu dieser Zeit überhaupt nicht publiziert wie nach 89. Dann gab es Organisationen die Fluchthilfe aus rein kommerziellen Gründen betrieben, heute werden und stellen die sich natürlich auch als Helden des Widerstandskampfes dar, dass waren sie aber nicht, für sie war es ein Geschäft und damit zumindest fragwürdig, Die hatten und sammelten natürlich Erfahrungswerte unter anderem aus gescheiterten Fluchtversuchen. Sie nahmen aber auch Risiken in Kauf die die Köpfe den unmittelbaren Schleusern und den zu Schleusenden aufhalsten ohne dass das denen unbedingt bewußt war. Bei den Schleusern handelte es sich oft um Leute für die ein paar 100 DM viel Geld war, die man leicht dazu überreden konnte das Risiko einzugehen und es kleinredete. Klappte es dann war es gut, klappte es nicht ging für die Köpfe dieser Organisation die Welt auch nicht unter, sie trugen das Risiko kaum, der Markt im Osten war weiter da und die willigen Seelen im Westen waren weiter in einem entsprechenden Milieu zu finden. Die Gruppe die natürlich wie gemacht dafür war von der DDR Propaganda als" kriminelle Menschenhändlerbande" definiert zu werden und irgendwie war sie ja das auch, zumindest ein bisschen [flash] . Das man dann alle in diese Kategorie eingeordnet hat ist eine andere Frage, aber was hätte die DDR zu diesen Aktivitäten auch anderes offiziell verlautbaren sollen ohne sich selbst vorzuführen? [grin] Und es gab die dritte Gruppe, Organisation die sich auf die Fahne geschrieben hatte gegen das Regime vorzugehen und willigen Personen einen Weg zu eröffnen, dass Land zu verlassen. Für die bestand nicht ein Geldverdienen im Vordergrund, für die zählte nur der Erfolg und die Minimierung des Misserfolgs, die Überzeugung gegen Unrecht vorzugehen. Die hatten natürlich die größten Chancen auf Erfolg und realisierten den auch. Die analysierten Misserfolge und zogen daraus Schlüsse, gingen äußerst konspirativ auch im Westen vor, sie hatten ja einen Gegner den sie bekämpfen wollten und von dem sie auch eine entsprechende Gegenwehr erwarteten. Sie fuhren ständig zu Testzwecken über die Transitstrecken und Güsten und späten diese aus, registrierten genau Abläufe und Veränderungen, zogen daraus Schlüsse und leiteten aus den Erkenntnissen Veränderungen in ihrem eigenen Vorgehen ab. Daraus ergab sich dann die höchste Erfolgsrate.
Die Aufnahme der Personen wechselte über die Zeit was das Vorgehen und die Aufnahmepunkte anging. Anfänglich fuhr man zu einer " unchristlichen Zeit", auf einen dunklen Parkplatz und die Person stieg einfach in den Kofferaum, dass wurde aber irgendwann zu risikoreich, also stieg man darauf um in der Masse unsichtbar zu werden, eigentlich bis zum Einsatz der berüchtigten Gammakanone, von da an war die Hochzeit der Schleuser eh vorbei. Das MfS war mit dem steigenden Verkehrsaufkommen nur noch sehr schwer in der Lage den Überblick zu behalten. Man lief auf einem übervollen Rastplatz kreuz und quer durcheinander, zum Essen, zum Tanken, in den Intershop und am Ende stiegen 2 statt eine Person in den PKW. Trotz aller Videoüberwachung war da auf einem übervollen Parkplatz nur schwer der Überblick zu behalten. DDR KFZ konnten dort durchaus und in großer Zahl zwischen den West PKW stehen und standen auch, im Besonderen zur Ferienzeit und den deutsch- deutschen Feiertagen. Der Umstieg in den Kofferraum erfolgte dann während der Fahrt.
Man fuhr als Transitreisender von der Strecke ab und die Personenaufnahme erfolgte irgendwo auf DDR Gebiet, dass überhaupt nicht überwacht war. Auch das wurde immer risikoärmer, die Einreise in die DDR stieg auch stetig an, es war kaum möglich jedes in der DDR umherfahrende KFZ zu kontrollieren ob es die Berechtigung dazu hatte. In Potsdam und Umgebung beispielsweise fuhren haufenweise Westtouristen durch die Gegend, wer hätte jedes Fahrzeug NOCHMAL auf DDR Gebiet kontrollieren wollen.
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Re: Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon augenzeuge » 13. Oktober 2018, 15:05

War die Vermutung der Ärztin wahrscheinlich, die Stasi hätte schon ihre Wohnung illegal durchsucht?


Halte ich für unwahrscheinlich.
Für wahrscheinlicher halte ich, dass man sich nach dem Vorfall das private Umfeld anschaut.

Ansonsten liefen die meisten Fluchten, welche organisiert waren, über Ostblockstaaten. Dort war das Risiko deutlich geringer. Mitte der 80er Jahre war bekannt geworden, dass es irgendwie eine Durchleuchtung an den Güst gab.
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Re: Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon zonenhasser » 13. Oktober 2018, 15:59

karnak hat geschrieben: bis zum Einsatz der berüchtigten Gammakanone, von da an war die Hochzeit der Schleuser eh vorbei.

Dazu gibt es hier schon einen Thread. Gab es durch den Einsatz der Gammakononen nachgewiesenermaßen aufgedeckte Fluchtversuche? In den zugänglichen Quellen ist die Rede, dass offiziell nicht mal der BND von der Existenz der Gammakanonen wusste. Die Schleuser hätten sich am ehesten einen Reim darauf machen können, dass so viele "Kofferraumfluchten" aufflogen - wenn's denn so gewesen wäre.
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Re: Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon karnak » 13. Oktober 2018, 16:16

Der Haken an dieser Technologie war, dass Fahrzeug musste kurz zum stehen kommen. Installiert war die Technik im Bereich Vorkontrolle Ausreise, mit dem immer öfter auftretenden massiven Verkehrsaufkommen in Stoßzeiten war das zum Stehen kommen der einzelnen Fahrzeuge immer häufiger nicht möglich. Ob das Fluchthilfe Organisation durchschaut haben weiß ich nicht, in jedem Fall hatten sie Glück wenn sie die Taktik des " Unsichtbar werden in der Masse" genutzt haben. Kam ein Fahrzeug zum stehen in dem sich eine zu schleusende Person befand war die allerdings chancenlos.
Und der BND [flash] , brauchen wir zum Einen nicht darüber reden, zum Anderen, Geheimdienste haben es natürlich in einer Demokratie sehr viel schwerer als in einer Diktatur, dass zu deren Ehrenrettung. Ich habe mich mit dem Bundeswehr Oberstleutnant in Spanien ausgiebig zum MAD unterhalten, der hatte für den nur Verachtung. Nach dessen Aussage ist der zur Wende schlichtweg abgetaucht als es um die Problematik NVA ging, sie hatten nämlich so gut wie nichts zur Lösung beizutragen.
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Re: Vereitelte Flucht über Transitwege

Beitragvon zonenhasser » 13. Oktober 2018, 16:56

karnak hat geschrieben:Und der BND [flash] , brauchen wir zum Einen nicht darüber reden.


Der Bundesnachrichtendienst hat mehrere hundert Physiker in seinen Reihen - keiner wurde mit einem Geigerzähler im Auto zu einer Testfahrt befohlen. Lieber zu Hause bleiben: Deckung geht vor Wirkung, heißt die hausinterne BND-Regel.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13687249.html
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