Um ein Ausbluten der DDR zu verhindern, plante die SED die Schließung der Grenzen«, schrieb Hermann Weber in seinem »Grundriss der DDR-Geschichte«. Was dem einen deutschen Staat an Menschen durch die »Republikflucht« verloren ging, bedeutete für den anderen Gewinn. In seiner »Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland« bemerkte Werner Abelshauser: »Die wirtschaftliche Bedeutung dieses Transfers von Humankapital kann nicht hoch genug angesetzt werden.« Beide deutsche Staaten hatten nach 1945 beim Wiederaufbau und Ausbau des ihnen zugefallenen Teils der Wirtschaft des Deutschen Reiches auf das gleiche Rezept gesetzt: Produktionssteigerung vorrangig auf extensivem Wege. Das bedeutete: Ein rasches Wachstums der Wirtschaft, vor allem der Industrieproduktion, war nicht möglich, ohne die zusätzliche Einstellung von Arbeitskräften - wenn auch die Beschäftigung nicht zwangsläufig im gleichen Maßstabe zunehmen musste wie die Erzeugung. Diese extensive Wachstumsstrategie lag in der DDR dem ersten Fünfjahrplan (1951-55) und auch den beiden folgenden »Perspektivplänen«, dem zweiten Fünfjahrplan (1965-1960) sowie dem noch vor dessen Abschluss verkündeten Siebenjahrplan (1959-1965) zu Grunde. Die Abwanderung von Arbeitskräften in den Westen, die die DDR von Beginn ihrer Existenz an begleitete und nach Einschätzung der zuständigen Institutionen der Bundesrepublik in sechs von sieben Fällen nicht politisch motiviert war, hatte jedoch während des ersten Fünfjahrplans andere Auswirkungen auf die Wirtschaft der DDR als während der beiden folgenden Perspektivplanperioden. Nicht, weil der Umfang der »Republikflucht« anfangs geringer gewesen wäre (jährlich 1951 bis 1955 ca. 243000, 1956 bis 1961 ca. 250000), sondern weil die DDR anfangs noch über Arbeitskräftereserven verfügte: Arbeitslose (1950 noch 325000), Hausfrauen, Jugendliche. Noch wurde die »Republikflucht« nicht zur Wachstumsbremse. Doch 1956 reichten diese internen Kompensationsmöglichkeiten erstmals nicht mehr aus; ab 1958 verringerte sich die Zahl der Erwerbstätigen im produktiven Bereich Jahr für Jahr. Durch Umschichtung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, dem Verkehrswesen und dem Handel in die Industrie gelang es ungeachtet dessen noch für einige Jahre, die Beschäftigtenzahl weiter zu erhöhen und ein beachtliches industrielles Wachstum zu gewährleisten. Zu Beginn der 60er Jahre war aber damit Schluss: Die Zahl der Arbeiter und Angestellten sank im Berg-, Fahrzeug- und Schiffbau. Im Bereich der Leichtindustrie, dem wichtigsten Produzenten industrieller Konsumgüter, waren vor allem die Textil-, Leder-, Schuh- und Rauchwarenindustrie, aber auch die Papier-, Glas- und Keramikproduktion sowie die polygraphische Industrie vom Arbeitskräfteschwund betroffen. Der Rückgang der Arbeitskräfte reduzierte das wirtschaftliche Wachstum. Die Zunahme der industriellen Nettoproduktion halbierte sich zwischen 1959 und 1961. Erst die Maßnahmen des 13. August 1961 schufen - wie beabsichtigt - für die DDR-Wirtschaft eine neue Lage. Eine neue Lage brachte dieses Datum aber auch der Bundesrepublik. Auch dort war während der 50er Jahre mehr Produktion vorrangig durch Wiederinbetriebnahme bzw. Neuaufbau von Industrieanlagen und die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte erreicht worden. Dabei konnte die BRD bis Mitte der 50er Jahre auf eigene Reserven an »Humankapital« zurückgreifen. Dann jedoch wurde dieses knapp. »Nunmehr setzte die Jagd nach Arbeitskräften ein«, so der Verfasser der neuesten »Deutschen Wirtschaftsgeschichte«, Wolfram Weimer. Unternehmen begannen mit übertariflichen Löhnen sich die Arbeitskräfte abzuwerben. Volkswirtschaftlich gesehen blieb die Lücke Humankapital aber bestehen. Der Blick richtete sich nun auf die Arbeitskräftereserven jenseits der Grenzen. Die Bundesregierung verhandelte mit Italien; im Dezember 1955 wurde ein erstes Anwerbe-Abkommen abgeschlossen. Doch in den Augen der westdeutschen Unternehmer gab es auch in der DDR beträchtliche Reserven an Humankapital: besser ausgebildet als die potenziellen Zuwanderer aus dem Süden und von den Arbeitern der Bundesrepublik nicht durch eine kulturelle und sprachliche Barriere getrennt. Während ungeachtet des Regierungsabkommens die Zahl der italienischen Arbeitskräfte bis 1960 gerade einmal die Viertelmillion überschritt, strömten seit 1955 (mit Ausnahme 1959) 200000 bis 300000 Ostdeutsche jährlich in den Westen. Während die Regierungen und Medien auf beiden Seiten die Wanderungsbewegung allein politisch interpretierten als »Republikflucht« oder »Abstimmung mit den Füßen«, handelte es sich bei der Mehrzahl der »Zonenflüchtlinge« um Personen, die von den beiden konkurrierenden Wirtschaftssystemen auf deutschen Boden dem westlichen eine bessere Chance einräumten. Wer kam, fand rasch Arbeit und bald auch guten Verdienst. Nach einer »Konjunkturwelle« 1957/58 »rast der Aufschwung in den Jahren 1959 bis 1962 dahin« (Weimer). Spätestens mit Chrustschows Berlin-Note von 1958 allerdings musste die Bundesregierung erkennen, dass der bequeme Bezug von »Humankapital« aus dem deutschen Osten so nicht ewig fortgesetzt werden konnte. Die Bundesanstalt für Arbeit richtete nach mehrjähriger Pause ihren Blick wieder in Richtung Süden und begann Verhandlungen mit Spanien, Griechenland und der Türkei. Und als dann nach dem 13. August 1961 der Zustrom aus Ostdeutschland tatsächlich versiegte, geriet der Konjunkturmotor der BRD nicht ins Stottern. Nunmehr stillten Südeuropäer den Arbeitskräftehunger der westdeutschen Industrie. In der DDR hielt man zunächst, durch den Mauerbau, der der Wirtschaft im Berliner Raum auch noch ein Plus von ca. 80000 ehemaligen »Grenzgängern« brachte, das Arbeitskräfteproblem für gelöst. Berechnungen der Staatlichen Plankommission über das in den 60er Jahren der DDR zur Verfügung stehende Arbeitspotenzial sorgten jedoch rasch für Ernüchterung. Die geburtenschwachen Jahrgänge der Kriegs- und Nachkriegszeit wären nicht in der Lage, die Abgänge aus Altersgründen zu ersetzen. Bis 1970 würden in der Industrie 200000 Arbeitskräfte fehlen. Ein daraufhin vom ZK der SED unternommener Versuch, die Sowjetunion und Bulgarien zu veranlassen, die der DDR noch bei offener Grenze als Akt der Solidarität angebotenen 40000 Arbeitskräfte auch unter den neuen Bedingungen zu überlassen, wurde von Chrustschow zurückgewiesen. Unter normalen Bedingungen - und die gäbe es seit dem 13. August auch in der DDR - müsse jedes sozialistische Land mit seinem Arbeitskräfteproblem selbst fertig werden. Nach einigem Zögern tat das die DDR auch. Das Neue Ökonomische System sorgte mit seinen - in vieler Hinsicht gewiss unvollständigen - materiellen Anreizen dafür, dass die Betriebe begannen, mit den vorhandenen Arbeitskräften stärker hauszuhalten, mehr auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu setzen, kurz, die intensiven Momente des Wirtschaftens zu verstärken. Obwohl die Zahl der Berufstätigen in der DDR zunächst weiter absank und erst 1970 die Marke von 1961 (nach dem 13. August) wieder erreichte, konnte ab 1964 ein stabiles Wirtschaftswachstum erreicht werden. Unser Autor, Professor für W...
https://www.neues-deutschland.de/artike ... pital.html dazu das ND mfg ratata