Rechtsextreme Gewalt - Warum Chemnitz nicht der Hambacher Forst istWarum muss man in Zeiten von Chemnitz und Köthen vor linksextremer Gewalt warnen? Es liegt an der schrägen Idee vom Hufeisen.
Auf eines kann man sich verlassen: Hetzt in Deutschland der rechte Mob, werden Menschen von Neonazis mit dem Leben bedroht, melden sich früher oder später Extremismusforscher zu Wort und mahnen, man dürfe aber auch die linksextreme Gewalt nicht vergessen. Diese werde in der Bundesrepublik nämlich unter-, die rechte hingegen überschätzt.
Einer dieser Experten heißt Eckhard Jesse. Im Tagesspiegel hat er gerade die Gewalttaten der Rechten in Chemnitz mit denen linker Umweltaktivisten im Hambacher Forst gleichgesetzt.
Das ist erstens abenteuerlich und erfüllt zweitens einen Zweck.Die Frage ist, warum die mahnenden Stimmen gerade dann besonders laut werden, wenn die Öffentlichkeit über rechte Gewalt erschrickt - wenn auf der Straße sichtbar wird, wie sich aggressiver völkischer Nationalismus Raum nimmt? Was sind das für Menschen, die ausgerechnet dann über linksextreme Gewalt sprechen wollen?Zur Vorgehensweise von Experten wie Eckhard Jesse gehört es, dass sie beteuern, Links- und Rechtsextremismus nicht miteinander gleichsetzen zu wollen, um dann genau das ausgiebig zu tun. In seinem Tagesspiegel-Beitrag hat Jesse die Taten von Chemnitz in einem Satz abgehandelt, um dann mit sechs Mal so vielen Worten die der Umweltaktivisten anzuprangern.
Er beschreibt, wie sich "teilweise angekettete" Aktivisten in rechtswidrig entstandenen Baumhäusern verschanzten, wie Polizisten mit Fäkalien beworfen wurden. Und er kommt eben nicht zu dem Schluss, dass ein Vergehen schwerer wiegt als das andere. Dass Fäkalienwürfe zwar eklig und dumm sind, aber nicht mit Morddrohungen und Übergriffen gegen Andersdenkende und Journalisten vergleichbar sind. Jesse lässt alles gleichwertig nebeneinander stehen. Genau das ist Gleichsetzung.Berichten Medien wirklich einseitig?Experten wie Jesse werfen den Medien vor, bei linksextremer Gewalt wegzuschauen. Das ist Unsinn, und das erkennt jeder, der sich zum Beispiel die Berichterstattung des laufenden Jahres anschaut. Der Tagesspiegel etwa schreibt ausführlich über linke Steinewerfer, angezündete Autos, besetzte Häuser, den Anschlag auf eine Stromleitung, das Zeigen verbotener Symbole, die Angst vor Ausschreitungen am 1. Mai, Farbbeutelwürfe gegen eine Hauswand... Und er verharmlost die Täter - anders als Jesse behauptet - keineswegs als "Chaoten", sondern benennt sie als "linksextrem".
Die Unterstellung, über linke Gewalt würde hinweggesehen, ist weltfremd. Jesse aber braucht diese These, sonst bräche sein Konstrukt zusammen.Was seltsamerweise nie passiert: dass ein Extremismusforscher nach tagelanger Berichterstattung über linke Gewalt - etwa bei den G20-Protesten in Hamburg - ankommt und mahnt: "Wir dürfen aber die rechtsextreme Gewalt nicht vergessen!"Was also treibt einen wie Jesse dazu, in Zeiten von Chemnitz und Köthen unbedingt über linke Gewalt sprechen zu müssen?
Eckhard Jesse ist ein Mann, der den Aufstieg der AfD nicht als Gefahr, sondern als "Zeichen einer Normalisierung" wertet. Heribert Prantl bescheinigte ihm schon vor Jahren die "Verharmlosung rechtsextremer Umtriebe".
Ein antisemitischer KlassikerDer Aufsatz zeigt, wie sich die Gefahr von rechts systematisch kleinschreiben lässt. Jesse behauptet etwa, in der Bundesrepublik sei Rechtsextremismus "mehr Phantom als Realität", Andersdenkenden unterstellt er Hysterie. Dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden wirft Jesse vor, "mit schrillen Worten vor ,neofaschistischen' Umtrieben zu warnen".
Er fordert, nicht auf herbeifantasierten Antisemitismus hereinzufallen: "Jüdische Organisationen brauchen Antisemitismus in einer gewissen Größenordnung, um für ihre Anliegen Gehör zu finden." Sogar der antisemitische Klassiker, wonach die Juden selbst schuld sind am Judenhass, fehlt bei ihm nicht. Jesse schreibt: "Auf Dauer dürfte Judenfeindlichkeit nicht zuletzt gerade wegen mancher Verhaltensweisen von Repräsentanten des Judentums an Bedeutung gewinnen."
In seinem Aufsatz nimmt er einen Bürgermeister in Schutz, der gesagt hatte, zum Ausgleich seines Gemeindehaushalts "müsste man schon einige reiche Juden erschlagen". Laut Jesse war der Spruch lediglich „unvernünftig“.
Trotz seiner Entgleisungen hat Eckhard Jesse Karriere gemacht. Und wird auch heute noch von Medien als Experte angefragt, um Chemnitzer Neonazis mit den Baumhausbewohnern des Hambacher Forsts zu vergleichen. Wichtige Erkenntnisse, die Jesse auslässtDie Gleichsetzung von Chemnitz mit dem Hambacher Forst ist eine unerträgliche Verharmlosung. Und wird ausschließlich von Leuten betrieben, die nicht vor Ort waren. Falls es wirklich Forschern bedürfte, um in diesen Zeiten rechte und linke Gewalt zu vergleichen, dann würde man sich wenigstens eine ehrliche Einordnung wünschen.Dann müsste zum Beispiel erwähnt werden, dass die Proteste der Umweltaktivisten nicht ansatzweise an die Ausschreitungen in Wackersdorf oder Brokdorf heranreichen, und erkennen, dass der Rechtsstaat damit fertig wird. Andererseits würde ein seriöser Forscher herausarbeiten, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie eine Situation gab, in der Vertreter einer Parlamentspartei, die jetzt bei 18 Prozent steht, auf der Straße offen mit Neonazis paktieren und den Umsturz fordern – konkret: die Bundesrepublik abschaffen wollen. So eine Erkenntnis ist von Jesse nicht zu erwarten.https://www.tagesspiegel.de/politik/rec ... 01702.html