„Oh ja, Mama, Lastauto fahren“, begeisterte sich der zweijährige Junge. Er kauerte mit seinen Eltern im Dickicht. Ihre schwarzgemalten Gesichter verschmolzen mit der dunklen Nacht. Die nächsten Stunden würden über die Zukunft von Martin Leutke und seinen Eltern entscheiden – die Flucht aus der ihnen unerträglich gewordenen DDR stand bevor.
Generationenübergreifende Schikanen
Auf dem Weg zum Kommunismus propagierte die DDR-Staatsführung ein atheistisches Weltbild. Kirchen galten als Zentren des Widerstandes. Martins Großvater stellte als Pfarrer aus Sicht der DDR-Führung einen ideologischen Gegner dar. Stasi-Mitarbeiter protokollierten akribisch den Wortlaut seiner Predigten. Schikane auch bei Martins Vater, dem Pfarrerssohn, ihm blieb das Abitur verwehrt. So absolvierte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger und legte seine Reifeprüfung auf der Abendschule ab. Das anschließende Studium durfte er erst nach enormen Verzögerungen antreten.
Mit Martins Geburt im Jahr 1974 bekamen die Eltern ihre Arbeitsstellen und eine Plattenbauwohnung in Schwedt an der Oder zugewiesen. Schlimmer noch als die Wohnung im grauen Einheitsbau waren die Giftschwaden, die von der dort ansässigen PCK-Raffinerie, dem wichtigsten Kraftstofflieferanten der DDR, über die Lande zogen. Das wenige Wochen alte Baby reagierte mit nicht in den Griff zu bekommenden Krankheiten. Neben all der Bevormundung war das Leben nun auch gesundheitlich nicht mehr erträglich.
Konspirative Begegnungen
Die Mutter hatte einen Cousin in Bonn, er stellte den Kontakt zu einer Fluchthilfeorganisation her. Alles lief über eine Kette von Mittelsmännern, Namen wurden nie ausgetauscht. Auf beiden Seiten war man extrem vorsichtig. Das DDR-Regime arbeitete konzentriert an der Infiltration und Zerschlagung derartiger Organisationen und bei Verhören war die Stasi nicht zimperlich. In den folgenden eineinhalb Jahren baute man während konspirativer Treffen gegenseitiges Vertrauen auf. „Wie in einem schlechten Film gab es Erkennungszeichen – mal eine gelbe Krawatte, mal eine unter den Arm geklemmte Zeitung“, weiß Leutke aus Erzählungen seiner Eltern.
Am 22. August 1976 schließlich überbrachte eine Mittelsfrau im Ostberliner Café „Unter den Linden“ die Nachricht, die Familie solle sich in der übernächsten Nacht an einem bestimmten Kilometerstein im Unterholz an der von der Stasi überwachten Transitstrecke Nürnberg-Berlin verstecken. Zwischen Mitternacht und ein Uhr käme ein Lieferwagen. Nach einem vereinbarten Erkennungsdialog wäre allen Anweisungen unbedingt Folge zu leisten. „Die kurze Vorlaufzeit überraschte meine Eltern“, erzählt Leutke, „aber sie waren vorbereitet und hatten zu diesem Zeitpunkt längst über Monate hinweg alle persönliche Gegenstände aus ihrer Schwedter Wohnung entfernt.“ Während vieler Besuche bei Angehörigen und Freunden versteckten sie unbemerkt Fotos, Briefe, handschriftliche Notizen und Urkunden in deren Kellerräumen. Nach der Flucht würde die Stasi ihre Wohnung durchsuchen und alles beschlagnahmen. Weder verbliebene Kleidungsstücke noch andere Gegenstände sollten Hinweise auf einen Westkontakt geben.
Durch die Nacht in die Zukunft
In stockdunkler Nacht setzte der Vater Frau und Kind im Unterholz ab, versteckte den Wagen in sicherem Abstand auf einem Waldweg. Dann stolperte er durch die Finsternis, hatte Schwierigkeiten, seine Familie zu finden. Erst nach Mitternacht entdeckte er sie. Kurz vor ein Uhr stoppte ein Lieferwagen auf dem Seitenstreifen. Männer stiegen aus, ein schneller Wortwechsel und dann saß die Familie im komplett mit Styropor ausgekleideten Laderaum. Die Isolierung sollte die Wärmesensoren an der Grenzstation überlisten. Ladeflächen wurden im Transitverkehr verplombt. Waren sie bei Ausreise intakt, konnten Transportfahrzeuge ohne weitere Kontrolle in den Westen passieren. Unbekannt ist bis heute, ob es einen zweiten Türmechanismus gab. Martins anfängliche Begeisterung über das „Lastauto“ wich einem unsicheren Schluchzen, „Hause fahrn“, flüsterte er.
Als der Wagen nach einiger Zeit anhielt, vernahmen die Eltern die Stimmen der Grenzer. Sie gingen um den Wagen, rüttelten an den Türen. Schon ein leises Wimmern hätte sie verraten. Martin aber war glücklicherweise bereits eingeschlafen. Der Wagen rollte wieder an – sie passierten nach West-Berlin. Die Flucht barg ein enormes Risiko. Wäre sie nicht geglückt, hätte die Stasi Leutkes Eltern inhaftiert. Um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden, hatte das Paar etwaige Aussagen festgelegt und ein mögliches Verhör immer wieder durchgespielt. Martin wäre zu seinen Großeltern oder in ein Pflegeheim gekommen, eine Zwangsadoption wäre aber auch möglich gewesen. „Das System war meinen Eltern unerträglich, insbesondere die permanente Gängelung durch den Staat, was Beruf, Freiheit, Erziehung oder Information anging“, sagt Leutke. „Sie waren wahnsinnig mutig und couragiert, aber nicht naiv. Ihre Vorbereitung war bis ins letzte Detail hochprofessionell. Letztlich haben sie mir ein Leben ermöglicht, das ich sonst so nicht gehabt hätte. Sie haben die beste Entscheidung ihres Lebens getroffen.“
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