Zeitzeuge berichtet in Kirchzarten über Inhaftierung in der DDR.
Für Hartwig Kluge an Zynismus nicht mehr zu übertreffen ist die Propagandazeitung der SED, die 1981 den Jahrestag des Mauerbaus feierte. Foto: Ralph Fautz
KIRCHZARTEN. Die Eckdaten reichen, um zu wissen, was, wann und wie in der DDR geschah? Mitnichten. Daten, Zahlen und Handbücher geben höchstens den Rahmen an Wissen, den es zu erschließen gilt. So auch im Fall Hartwig Kluge. Der Fluchtversuch des DDR-Zeitzeugen scheiterte 1969 in Ungarn. Was machte das mit ihm, wie erlebte der damals 21-Jährige dieses heute scheinbar enträtselte System östlich der Mauer? Es sind die persönlichen Schicksale jenseits der sie einenden Konstanten, von denen der in Freiburg lebende Kluge am Donnerstagabend, dem 28. Jahrestag des Mauerfalls, in der Rainhofscheune in Kirchzarten-Burg vor rund 40 Gästen sprach.
"Schließen Sie für dreißig Sekunden Ihre Augen", bat Kluge am Beginn seiner Ausführungen. Die Zuhörer sollten sich an die Zeit erinnern, als sie 21 Jahre alt waren. Welches Lebensgefühl hatten sie, was war damals aktuell? Kluge griff die einzelnen Erinnerungen auf und zog sie in eine kalte Zelle im ungarischen Pècs/Fünfkirchen: Januar 1969 – Kluge, Sohn eines Landtierarztes und geboren in Halle an der Saale, saß ein. Unwissend, wie es weitergehen würde, endete die Idee der illegalen Ausreise über das ehemalige Jugoslawien nun hier. Der Entschluss zu diesem Schritt war eine Kulminierung an Ereignissen, wie sie heute kaum mehr vorstellbar scheinen und die Perversität des sozialistischen Überwachungsstaates nicht besser zeigen könnten.
Die Stimme wird zunächst langsam, aber nur, um gleich wieder an Tempo zuzulegen und die Lebensfreude jungen Erwachsenen zu zeigen. Seine Willenskraft und seine Entschlossenheit waren es, die Kluge halfen, die insgesamt 18 Monate DDR-Zuchthaus durchzustehen, die im Anschluss an Ungarn folgen sollten.
Das Jahr 1968, Prager Frühling, Hoffnung, es folgten Enttäuschung und Desillusionierung. Zwar konnte man sich in der ehemaligen Tschechoslowakei Die Zeit und den Spiegel kaufen, aber substantiell änderte sich nichts. Dieser Sommer führte den 21-Jährigen, dessen Studienwunsch Sport und Deutsch trotz guter Leistungen abgelehnt wurde, auch nach Ungarn. Grund für die Ablehnung war seine systemkritische Einstellung. An den Prager Frühling wurde er später durch Fotos erinnert, die der Stasi vorlagen. Dass auch sein ehemaliger Schulrektor die Ablehnung zu verantworten hatte, erfuhr er nach der Wende aus den Akten.
Es waren wohl die richtigen Leute, die Kluge in Ungarn kennenlernte, und seine Flucht sollte nicht die erste sein, bei der sie halfen. Für den folgenden Winter war alles vorbereitet, Silvester feierte Kluge ausgiebig in Ungarn. Über fingierte Postkarten wurde alles organisiert. Fast schien die Grenze überwunden, da "stand vor mir plötzlich einer im Tarnanzug mit Knarre". Die Stimme geht etwas hoch, wird beim Erzählen schneller. Die Zeit damals schien hingegen wie versteinert. "Der hatte genauso viel Angst, wie ich", erinnerte sich Kluge, der noch schnell sein Geld und einen Feldstecher unbemerkt ins Gras warf, ehe er sich in der ungarischen Zelle wiederfand.
Zurück in der DDR, Hohenschönhausen und anschließend der "Rote Ochsen" in Halle: Das längste Verhör im Zuchthaus habe zwanzig Stunden gedauert, erzählt Kluge. Aus den Akten ging eine Empfehlung im Umgang mit dem "Staatsfeind" hervor, wonach man ihm mit Bedacht und Ruhe begegnen solle. Ein Jahr und sechs Monate lautete das Urteil. "Es ratterte in einem, was das bedeuten würde, 78 Wochen. Ich musste schlucken", berichtet Kluge. Seine Eltern setzte die Stasi hierüber zunächst nicht in Kenntnis.
Aus Hartwig Kluge wurde 54/2, seine Häftlingsnummer. Des Namens beraubt, musste nun Zeit totgeschlagen werden. Die Solidarität unter den politischen Gefangenen sei aber groß gewesen. 54/2 wurde nach Chemnitz verlegt, erzählt er.
Durch den Häftlingsfreikauf gelangte er in den Westen nach Gießen. Unvergessen ist für ihn der Moment, als alle Ampeln auf Grün gestanden hätten und der Bus mit 80 Sachen über die Grenze gefahren sei. Der Schweinerollbraten auf der Autobahnraststätte später mit seinen Verwandten wird mindestens genauso unvergesslich bleiben.
http://www.badische-zeitung.de/kirchzar ... 53375.html