Wenn es um Grundsatzfragen geht, ist es nicht immer leicht, sich für eine Seite zu entscheiden. Oft haben beide Seiten plausible Argumente. Das gilt auch für die Neuauflage des Obergrenzenstreits, der die Union gerade zu spalten droht.
Die CSU nimmt für sich in Anspruch, eine Stimmung in der Bevölkerung aufzugreifen. Bundeskanzlerin Angela Merkel behauptet von sich, sie denke an die Einheit Europas. Beides sind wichtige, legitime Impulse. Die Frage kann daher nicht lauten: Wer hat recht? Sondern: Wer hat die besseren Argumente?
Merkel hat im Streit um ihre Flüchtlingspolitik viel falsch gemacht. Dennoch ist ihre Position zu den von der CSU geforderten Zurückweisungen die richtigere.
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Auszüge:Merkel hat im Streit über die Zurückweisungen die besseren Argumente. Da ist zunächst die juristische Ebene. Die CSU stellt es so dar, als sei die Rechtslage eindeutig. So ist es keineswegs. Die sogenannte Dublin-Verordnung regelt, dass der EU-Staat für einen Asylbewerber zuständig ist, in dem dieser die Europäische Union zuerst betreten hat. Von dieser Regel gibt es allerdings zahlreiche Ausnahmen. Wenn ein Antragsteller etwa einen Familienangehörigen hat, der als anerkannter Flüchtling in einem anderen EU-Staat lebt, dann hat er das Recht, seinen Antrag dort prüfen zu lassen.
Der Europäische Gerichtshof hat erst kürzlich entschieden, dass ein Flüchtling nicht einfach so in das Land zurückgeschickt werden darf, in dem er einen Asylantrag gestellt hat - dieses Land muss erst zustimmen. Wer, wie die CSU, diese Regelungen falsch findet, sollte sie nicht leugnen, sondern für eine Reform derselben sorgen. Und was macht die CSU? Statt Merkel in ihren Bemühungen zu unterstützen, verkünden Bundesinnenminister Horst Seehofer und vor allem Ministerpräsident Markus Söder und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, dass eine solche Reform ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hat.
Die zweite Ebene ist die politische Strategie der Akteure. Nach verbreiteter Auffassung denkt die CSU bei allem, was sie tut, an die Landtagswahlen in Bayern. Richtig daran ist, dass die Verteidigung der absoluten Mehrheit im Freistaat für die CSU wichtiger ist als alles andere. Ohne eine starke Basis in Bayern wäre ihr Einfluss in Berlin deutlich kleiner. Aber ist das Vorgehen von Seehofer, Dobrindt und Söder wirklich im Interesse der CSU? Man darf das bezweifeln. Der Streit um die Obergrenze hat den Einbruch der Union bei der Bundestagswahl auch in Bayern nicht verhindert - er hat ihn befördert. Es könnte sein, dass dies für die anstehende Landtagswahl nicht zutrifft, da eine Stimme für die CSU im kommenden Oktober nicht automatisch eine für Merkel ist. Doch auf der Basis dieser vagen Vermutung riskieren die Christsozialen derzeit nicht nur die Koalition, sondern auch die gemeinsame Fraktion im Bundestag - und damit ihr Alleinstellungsmerkmal. Denn eine Folge des Bruchs der Fraktionsgemeinschaft wäre zweifellos eine Ausweitung der CDU auf Bayern. Dies wiederum würde dafür sorgen, dass die CSU ihre absolute Mehrheit endgültig verliert.
Die Mehrheit der Bürger ist für eine europäische Lösung
Die CSU geht davon aus, dass ihre Position von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Es gibt jedoch Hinweise, dass ihr der Streit mit der Schwesterpartei selbst schadet. Dem aktuellen RTL/n-tv Deutschlandtrend zufolge etwa ist die CSU in Bayern regelrecht eingebrochen. Sie kommt dort nur noch auf 36 Prozent. Eine weitere Forsa-Umfrage ergibt, dass eine deutliche Mehrheit der Befragten zwar dafür ist, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, wenn diese bereits in einem anderen Land registriert wurden. Aber
66 Prozent sprechen sich für eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage aus."Nahezu jeden Tag erreichen die Bürger Nachrichten, die sie in ihrer Einschätzung bestätigen, dass wir die Lage nicht im Griff haben und teilweise eklatante Systemfehler bestehen", sagt Dobrindt. Doch ein guter Teil dieser Nachrichten wird von ihm und seiner Partei selbst produziert. "Die Denke des Populismus … schafft Probleme, statt sie zu lösen", analysiert der "Tagesspiegel" treffend. Das geht so weit, dass die CSU sich einen Spin der AfD zu eigen gemacht hat: Merkel habe 2015 "mit einer einseitigen, nationalen Entscheidung, seine Grenzen aufzumachen, die europäischen Partner damals allein gelassen", erklärte Söder am Montag im ZDF. Damit habe die CDU den Kontinent gespalten, sagte Seehofer. Man kann zu Merkels Entscheidung von 2015 stehen, wie man will. Sie wurde ohne Seehofer gefällt, der damals telefonisch nicht erreichbar war.
Aber ein nationaler Alleingang war es nicht: Merkel handelte nicht nur in Absprache mit der SPD, sondern auch mit der ungarischen und der österreichischen Regierung.AZ