Als Thälmann-Pionier auf Du und Du mit "Iwan"Als Europa 1948 in Schutt und Asche lag, war Detlev Crusius sechs Jahre alt. Da hatte er bereits eine mehrmonatige Flucht vor der Roten Armee hinter sich. Jetzt plantschte er mit russischen Soldaten im See und bekam einen Haarschnitt erster Güte verpasst.Kleine Pioniere: Solch eine Uniform besaß auch Detlef Crusius. In der ersten Klasse wurde er Jung-, später Thälmann-Pionier und "fand das spannend". Das Foto zeigt eine Pioniergruppe im Jahr 1968.Die Nachkriegszeit begann für mich in Güstrow, denn das war der Ort, an dem meine Familie sich nach unserer Flucht endlich wieder zu Hause fühlte. In Güstrow bin ich in die Schule gekommen, hier lernte ich meine ersten russischen Vokabeln und Sätze, denn Russisch war Pflichtfach ab der ersten Klasse. Ich wurde auch Thälmann-Pionier, das wurde jeder meines Alters und ich fand das spannend. Mein Vater und meine Mutter wurden Mitglieder in der Gesellschaft "Deutsch-Sowjetische Freundschaft", das wurde auch jeder, vermutlich fand mein Vater das auch spannend.
Wir wohnten nicht weit von einer russischen Kaserne. Wenn die russischen Soldaten aus der Kaserne kamen und singend zu ihren Übungsplätzen marschierten, marschierten wir Kinder parallel auf dem Bürgersteig mit, behelmt mit kaputten Kochtöpfen, Mützen oder Papierhelmen. Und wir trugen einen Knüppel an einer Kordel über der Schulter wie die Soldaten ihre Kalaschnikow mit der dicken Munitionstrommel und der Mündung nach unten schräg auf dem Rücken. Die Soldaten sangen auf Russisch ein Marschlied, das klang in unseren deutschen Ohren wie "Leberwurst - Leberwurst", also sangen wir auf Deutsch auch "Leberwurst - Leberwurst".
Die Soldaten waren freundlich und lachten mit uns oder auch über uns und manchmal bekamen wir von ihnen etwas zu essen. Wenn meine Mutter es nicht merkte, nahm ich meine kleine Schwester Heliane mit. Sie war damals etwa drei Jahre alt und klein und dünn, und ihr Gesicht bestand nur aus teetassengroßen dunklen Augen, und sie konnte auf Kommando furchtbar heulten, wenn sie Uniformen sah. Wenn sie heulte, gab's meistens mehr von den Russen.
Baden mit den RussenDie russischen Soldaten hatten selber nicht viel zu essen. Meine Mutter sagte: "Das sind janz arme Schweine, denen jeht et noch dreckiger als uns."
Meine Mutter war regelmäßig entsetzt, wenn ich mit meiner kleinen Schwester an der einen Hand und Brot oder Süßigkeiten und manchmal sogar Schokolade in der anderen wieder nach Hause kam. Ich verstand die Angst meiner Mutter nicht. Klar, manchmal waren die russischen Soldaten betrunken und dann ging man ihnen besser aus dem Weg. Einmal haben ein paar betrunkene Russen eine Frau auf der Straße umarmen wollen, so zum Spaß. Die Frau wehrte sich und fiel bei dem Handgemenge in eine Pfütze und hat dabei so laut geschrien, dass russische Militärpolizei dazukam. Die hat die Betrunkenen dann fast totgeschlagen. Man hat die Bewusstlosen nach der Prügelei blutüberströmt wie nasse Säcke auf einen Lkw geworfen und wegfahren.
In der Umgebung von Güstrow gibt es mehrere Seen, einer der kleineren ist der Sumpfsee, und wenn es warm war, gingen wir dort baden. Oft kamen die russischen Soldaten von ihren Übungsmärschen auf dem Rückweg am See vorbei, und wenn ihr Kommandeur gute Laune hatte, dann durften auch die Soldaten dort baden. Erst planschten die Soldaten im Wasser rum, ein paar Meter weiter planschten wir, dann planschten wir alle zusammen.
Grischas GeheimnisEinmal hatte einer der Russen eine Schere bei sich, und die Soldaten fingen an, sich gegenseitig die Haare zu schneiden, sich gegenseitig kahl zu scheren. Die Soldaten beobachteten uns lachend, dann machte einer eine Handbewegung zu mir, und schon saß ich auf einem Baumstumpf und bekam einen russischen Militärhaarschnitt verpasst. Als Junge war ich blond und hatte einen ordentlichen Haarschnitt mit Scheitel - bis zu diesem Tag. Russen hatten keinen Haarschnitt, eigentlich nur Stoppeln auf dem Kopf, und so was hatte ich jetzt auch. Als ich an dem Abend nach Hause kam, wurde meine Mutter sehr laut. Dabei waren meine Haar gar nicht so kurz, wie bei den Soldaten. Ich hatte noch relativ viele Haare auf dem Kopf.
Güstrow war eine kleine Stadt und die russische Garnison war auch klein. Da waren viele Verbindungen zwischen Deutschen und Russen möglich, die in größeren Städten so direkt nach dem Krieg unmöglich gewesen wären. Besonders gut erinnere ich mich an Grischa. Der Grischa war etwas Besonderes in der russischen Armee, er wohnte nicht in der Kaserne, er wohnte bei uns im Haus, er sprach auch ganz gut Deutsch. Er versorgte das ganze Haus mit Konserven und anderen Dingen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen, geschweige denn gegessen hatte.Einmal beobachtete ich, wie er irgendwas oben im Wasserkasten auf dem Klosett versteckte und merkte, dass ich das gesehen hatte. Er legte verschwörerisch den Finger auf die Lippen und sagte: "Nicht sprechen! Ich bringen Heringe mit." Danach gab es bei uns einige Tage Heringe mit Pellkartoffeln. Jedes Mal, wenn ich Grischa auf der Treppe begegnete, legte er den Finger auf die Lippen und grinste mich verschwörerisch an, auch noch, als gar nichts mehr im Wasserkasten versteckt war, denn ich war raufgeklettert und hatte nachgesehen.
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz
Schwarzmarkt-Treiben: Auf dem "Schwarzen Markt" vor dem Berliner Reichstag besieht sich 1945 ein russischer Soldat vor dem Tausch den offerierten Bademantel. "Geheimnisvolle Geschäfte" machten indes auch Mutter und Vater Crusius.Wie die Geschichte mit Grischa weiter geht, erfährt man hier:
http://www.spiegel.de/einestages/kindhe ... 49655.html