„SM 70“ in der Altmark getestetAltmark. Fast auf den Tag genau 40 Jahre ist es jetzt her, als Horst S. bei seiner Grenzflucht am Abend des 29. Dezember 1971 nahe Zießau am Arendsee auf einen bislang unbekannten Gegner stieß.
Der 28-Jährige sah die angsteinflößenden Metalltrichter, die ihn irgendwie an die Mündung des Gewehrs von Räuber Hotzenplotz erinnerten. Daran befestigt waren drei Drähte, die parallel zum zwei Meter hohen Sperrzaun verliefen.
Bis zu 110 SplitterDass der mittlere Draht der Auslöser für eine nagelneu installierte Selbstschussanlage vom Typ SM 70 war, auf diese Idee kam Horst S. erst, als es bereits zu spät war: 25 der insgesamt bis zu 110 Splitter des mit 100 Gramm TNT-Sprengstoff befeuerten Geschosses trafen S. entlang der rechten Körperhälfte, während kurz nach 19 Uhr beim vor Ort stationierten Grenzregiment 24 die Sirenen losheulten. Der schwer Angeschossene versuchte zwar noch zu flüchten, doch es gelang ihm nicht. Die Grenzer nahmen Horst S. fest.Er kam ins Krankenhaus nach Seehausen und Magdeburg, überlebte und wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Wie die „Welt“ berichtete, wurde S. das erste Opfer der Selbstschussanlage SM 70 überhaupt. In einer geheimen Verschlusssache wertete der zuständige Generalleutnant Erich Peter alle Fluchtversuche akribisch aus.
In den Jahren nach 1971 wurden immer mehr Selbstschussanlagen entlang der Grenze installiert. Die Kosten beliefen sich auf 100 000 Mark je Kilometer.50 Jahre ist es jetzt her, da schloss sich mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 für 28 Jahre der „Eiserne Vorhang“. Seit diesem Tag hat es bis zum Fall der Mauer immer wieder spektakuläre Fluchten über die innerdeutsche Grenze gen Westen gegeben.
Doch rund 30 000 Grenzsoldaten, 870 Kilometer Grenzzaun, 440 Kilometer Selbstschussanlagen vom Typ „SM-70“, 602 Kilometer Kfz-Sperrgräben sowie 230 Kilometer Minenfelder „Typ 66“ machten „gewöhnliche“ Fluchten nahezu aussichtslos. Doch viele der an einer Flucht interessierten DDR-Bürger waren einfallsreich: Als spektakulär gingen Fluchten im Heißluftballon, im Tunnel, mit der Planierraupe oder mit selbstgefertigten Steighilfen zum Überwinden des Streckmetallzaunes in die Geschichte ein.
Erster Test in der Altmark1135 Menschen, darunter über 40 Kinder und Jugendliche, kamen bei der Flucht ums Leben. 27 Angehörige der Grenztruppen fanden den Tod, rund 200 ertranken bei der Flucht in der Ostsee. Die Selbstschussanlagen vom Typ SM 70 entlang der einstigen DDR-Grenze gehörten zu den grausamsten Tötungsmaschinen, die sich menschliche Gehirne je ausgedacht haben.
Die Altmark nimmt bei der Tragödie einen besonderen Stellenwert ein: Im Grenzbereich zwischen Salzwedel und Arendsee wurden die Selbstschussapparate erstmals vor ihrem Großeinsatz getestet. Auch der kleine Dährer Ortsteil Wiewohl ging in den 1970er-Jahren in die Geschichte ein: Hier demontierte der ehemalige DDR-Bürger Michael Gartenschläger erstmals eine komplette Selbstschussanlage und löste damit einen internationalen Eklat aus. Denn: Die DDR hatte stets bestritten, solche Anlagen zu haben.
„Im Bereich Salzwedel-Lüchow wurden die ersten Selbstschussanlagen getestet“, berichtet Dietrich-Wilhelm Ritzmann. Der Museumsführer des Grenzlandmuseums Göhr bei Schnega gilt als Experte auf dem Gebiet. Doch wie kamen die SM 70, die auch in den Varianten SM 501 und später SM 701 auftraten, an die Grenze? Hartnäckig halten sich Gerüchte, der SS-Mann Erich Lutter habe bereits 1942 erstmals die Idee gehabt, die „Zaunminen“, „Schützenminen“ oder „Splitterminen“, wie sie auch genannt wurden, zu installieren – damals allerdings an KZ-Gebäuden.
Bis 1976 wurde etwa ein Drittel der 1378 Kilometer Todesstreifen mit SM 70 bestückt. Für viele Deutsche war der mit Grenzsoldaten, Beobachtungstürmen, Stacheldraht, Streckmetall-Zäunen, Gräben, Panzersperren, Minenfeldern, Selbstschussanlagen und Bewegungsmeldern stark gesicherte „eiserne Vorhang“ 28 Jahre lang unpassierbar.
Minen an Schweinen getestetDie SM 70 gingen 1968 in Serie, 35 000 ausrangierte Schützenminen älterer Bauart gingen an die Bruderarmee in Nordvietnam. 1966 wurden die ersten Apparate mit Hilfe des militärtechnischen Instituts „VUSTE“ in der Tschechoslowakei entwickelt. Zwischen Salzwedel und Arendsee mussten zunächst die Pioniere ran, das Gelände vorbereiten. „Danach wurde die Streuung der Selbstschussanlagen an Schweinen getestet, die in die entsprechenden Bereiche getrieben wurden“, sagte Ritzmann.
https://www.az-online.de/altmark/salzwe ... 47574.html