Nadelstiche gegen die DDR Illegale Losungen wie "DDR=KZ" oder "Hoch BRD" gab es im SED-Staat zu Tausenden - und das Regime konnte die Schreiber nur selten ermitteln. Ein Leipziger Historiker erforscht jetzt erstmals anhand von Stasi-Unterlagen das erstaunliche Ausmaß jener anonymen und fast vergessenen Rebellion. Neue Forschungen belegen das Ausmaß anonymer Proteste und die geringen Erfolge der Staatssicherheit.Unerhörtes musste der Bürgermeister der Gemeinde Heyda lesen, als er am frühen Morgen des 7. Oktober 1980 auf den amtlichen Dorfaushang schaute:
"31 Jahre existiert die DDR nun schon, wir Mitglieder der Gruppe TFH werden dafür sorgen, daß die DDR in wenigen Jahren vernichtet wird." Ein ähnlicher Gruß zum Staatsgeburtstag schmückte das schwarze Brett des gleichfalls südlich von Riesa liegenden Ortes Prausitz. Erstmals war ein Zettel mit dem geheimnisvollen Kürzel TFH im August an einem Straßenmast aufgetaucht. Die Botschaft:
"Erst wenn Erich Honecker hängt, kann Deutschland aufatmen."Solche Aktionen seien keinesfalls nur vereinzelt vorgekommen, erklärt der Leipziger Historiker Sören Zöger. Seit zwei Jahren durchpflügt er auf dem mühsamen Weg zum Doktortitel ein bislang unbeackertes Forschungsfeld und hat in der Stasi-Akten-Behörde massenweise Belege für eine Form der Regimekritik gefunden, gegen die der Sicherheitsapparat meist nichts ausrichten konnte: Parolen, die an Mauern prangten, Meinungsbekundungen, die an Haltestellen klebten, Fahnen, die heruntergerissen wurden.
"Ich habe insgesamt etwa 200 000 Aktenblätter durchgesehen und bin dabei auf fast sechseinhalbtausend Fälle gestoßen", erläutert der 27-Jährige. Die Zahl beschreibt wohl nur die Spitze eines Eisberges. Denn die Recherchen beschränkten sich auf die heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie im Wesentlichen auf die Zeit zwischen 1961 und 1989. Außerdem grenzte der gebürtige Altenburger sein Erkundungsgebiet ein. Schriftliche Äußerungen innerhalb von Gebäuden - dazu zählen nicht zuletzt politische Bekundungen an Toilettenwänden - ließ er unberücksichtigt."Das Beispiel der TFH-Zettel zeigt, dass es solche Nadelstiche gegen das System nicht nur in den größeren Städten gab", berichtet Zöger. Während derlei Vorkommnisse sonst meist totgeschwiegen wurden, rief die Volkspolizei in diesem Fall zur Mithilfe auf, und der Prausitzer Schuldirektor behauptete kühn, TFH würde "Treue für Hitler" bedeuten. Die beiden 15-jährigen Verfasser der Texte aber wollten sich keineswegs in die Nazi-Ecke drängen lassen. Sie schickten der Polizei einen anonymen Brief und stellten klar, dass "Tod für Honecker" hinter dem Kürzel stecken würde. Die Halbwüchsigen nannten ihre Aktion einen bösen Kinderstreich und entschuldigten sich.
Erst jener Brief brachte die Sicherheitsorgane auf die Spur der Schreiber. "In diesem Fall reagierte die Staatsmacht überraschend milde", stellt der Wissenschaftler fest. "Im Stasi-Bericht steht, dass es sich um ,bisher unbescholtene Jugendliche' handele, ,deren Eltern ebenfalls einen guten Leumund' besäßen. Die Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, hinzu kamen ein paar Tage gemeinnützige Arbeit."
Nur in 18 Prozent der von Zöger recherchierten Fälle wurden die Täter gefasst. "Sie waren im Durchschnitt 23 Jahre alt und zu mehr als 90 Prozent männlich. Meist handelte es sich um Arbeiter, Lehrlinge oder Schüler, selten um Studenten." Die Justiz verhängte oft drastische Strafen. In Jena quittierte sie 1968 Protest-Parolen einiger Medizin-Studenten gegen den Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR mit bis zu vier Jahren Gefängnis.
Zu siebeneinhalb Jahren wurde Heinrich Saar verurteilt. Der zuvor geschasste Marxismus-Dozent hatte mit Unterstützung von Studenten 1978 in Riesenlettern auf dem Sockel des Leipziger Völkerschlachtdenkmals
"Freiheit für Bahro" gefordert, einen inhaftierten linken SED-Kritiker.
"Meist waren die Urheber der Malereien nachts mit weißer Ölfarbe und Pinsel unterwegs, nutzten Mauern, Fahrbahnen und sogar Rathaustreppen oder klebten Zettel. Deren Schrift entstand oft mit Hilfe von Stempelkästen, ein damals beliebtes Kinderspielzeug", sagt der Historiker.
Die Geheimdienstler fotografierten die Losungen zunächst, dann wurden sie entfernt oder überstrichen. "25 Jahre Sklavenstaat" war kurzzeitig an einer Mauer in Jena zu lesen, "DDR=KZ" stand an einer Weißenfelser Litfaßsäule, "No DDR" und "Hoch BRD" an Hauseingängen in Dessau. Punks lieferten Sprüche wie "macht kaputt was euch kaputt macht" und "Anarchie".
Die Bands The Cure und Schleim-Keim, die dem Staat suspekt erschienen, wurden gewürdigt, ebenso - in Verbindung mit einem Peace-Symbol - Rockrebell Billy Idol. "Die Registrierung solcher Schriftzüge durch die Stasi", so der Historiker, "zeigt, dass die Machthaber darin eine politische Äußerung sahen."
Etwa fünf Prozent der in den Akten erfassten Texte und Symbole könnten als NS-Propaganda gewertet werden, eindeutig sei dies aber in vielen Fällen nicht. "Ich will das keineswegs bagatellisieren", betont Zöger, "aber die Zuordnung ist oft schwierig." Es gebe zum Beispiel die pazifistische Forderung "Frieden schaffen ohne Waffen" und daneben als völligen Widerspruch ein Hakenkreuz.
Bei Vernehmungen musste die Mielke-Truppe feststellen, dass sich Parolenschreiber mitunter auf die Tradition des Widerstandskampfes gegen Hitler beriefen, beispielsweise auf Sophie Scholl und ihre Flugblattaktionen. Den meisten sei es darum gegangen, einen Freiraum für die sonst fehlende Meinungsfreiheit zu finden, resümiert der Wissenschaftler. "Zum Beispiel schrieb im Jahr 1983 jemand an ein Schaufenster in Leipzig nichts weiter als: ,Hurra wir haben Meinungsfreiheit', und genau die hatte sich der Verfasser ja verschafft."
Der Doktorand fand in den Akten der Stasi-Unterlagenbehörde zudem Hinweise auf mehr als 1000 heruntergerissene Fahnen. Ein paar davon seien nachweislich verbrannt worden, am Mügelner Bahnhof habe ein nächtlicher Passant eine Flagge nach verrichteter Notdurft als Toilettenpapier-Ersatz verwendet, erzählt Zöger. "Manche schnitten auch das Emblem heraus, um die DDR- in eine Deutschlandfahne zu verwandeln."
https://www.aktion-zivilcourage.de/Star ... d5691s648/Die Erfolgsquote der Stasi war da ja sichtlich sehr bescheiden....