Rituale sind grundsätzlich mehrschichtig, sowohl bezüglich der Sinnstiftung als auch ihrer sozialen Praxis. Im DDR-Alltag und noch viel augenfälliger während ideologisch geprägter Feste wurden diverse Rituale inszeniert, die häufig ältere Traditionen fort- und umschrieben. Dazu gehörten tägliche Begrüßungsriten wie der Pionier- oder FDJ-Gruß, Masseninszenierungen bei Appellen, Festen und Aufmärschen insbesondere zum 1. Mai und 7. Oktober, Übergangsriten wie die Jugendweihe oder Rache- und Reinigungsriten wie die formalisierten Anklagen und Schuldbekenntnisse in Schauprozessen oder die Selbstkritiken von Parteimitgliedern.1 Sie dienten der Schaffung und Inszenierung von Gemeinschaft und machten sichtbar, wer sich ihr verweigerte, von ihr ausgeschlossen wurde bzw. gegen welche Feinde2 man sich abgrenzte.
Rituale verdeutlichten die Machtverhältnisse nicht nur, sie schufen sie auch, indem etwa Kundgebungsteilnehmer fähnchenwinkend und mit "Hoch"-Rufen der Parteiführung huldigten. So erscheint die Passage der Tribünen bei den feierlichen Großdemonstrationen als Kernritual der Legitimation der SED-Herrschaft.3 Neben dem sowjetischen Vorbild wirkten bei diesen Inszenierungen ältere Traditionen der Arbeiterbewegung nach, im konkreten Erscheinungsbild und im Erfahrungshorizont der Beteiligten waren allerdings auch die Ähnlichkeiten zum Nationalsozialismus präsent.4
Eine noch heute faszinierende zeitgenössische Analyse bot anlässlich der Formierung politischer Dissidenz durch die Charta 77 in der Tschechoslowakei Václav Havel. Er zeichnete die Mechanismen der Einbeziehung in die Diktatur durch rituelle Teilnahme an ideologischen Bekundungen nach.10 Indem etwa der Leiter eines Gemüseladens im Schaufenster zwischen Zwiebeln und Möhren das Spruchband "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" platziert, erklärt er den Machthabern seine Loyalität, wobei ihm der semantische Inhalt der Aussage – die Einigkeit der Proletarier – laut Havel relativ egal ist. Sie ist gleichwohl nicht unwichtig, verweist sie doch auf "irgendwelche höheren Ebenen der uneigennützigen Überzeugung" und bietet dem Gemüsehändler damit die Möglichkeit, "die ›niedrigen‹ Fundamente seines Gehorsams und somit auch die ›niedrigen‹ Fundamente der Macht vor [sich] zu verstecken." Denn er könnte es mit seiner Würde nicht vereinbaren, ein Spruchband "Ich bin gehorsam und will in Ruhe gelassen werden" in sein Schaufenster zu stellen – obwohl er genau diese Aussage bezweckt.
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http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... 602-demke/
Mich würde einmal interessieren, wieviel geschätzte Prozent der Bevölkerung eigentlich diesen Parolen glaubenschenkte und ebenso was denn eingefleischte SED - Mitglieder davon hielten. Auch würde ich gerne einmal wissen. was man empfand wenn man mit Hochrufen an den Genossen vorbeiziehen musste ?
Auf mich wirkte das von Beginn an immer nur befremdlich und irgendwann lächerlich, auch wenns für viele DDR Bürger wahrscheinlich eher ärgerlich statt lächerlich war, oder?