DER SPIEGEL - 41 / 1990 - Der historische Irrtum, der die Mauer fallen ließ
"Diesmal sterbe ich, Schwester"
Reila Mittenzwey, wohnhaft in Berlin, Wisbyer Straße, steht am Morgen des 9. November 1989
auf, um an der Sitzung des Zentralkomitees der SED teilzunehmen.
Gerhard Lauter, wohnhaft in Berlin, An der Kolonnade, steht am Morgen des 9. November 1989
auf, um in das Innenministerium zu fahren.
Was diese vier DDR-Bürger bis zum nächsten Morgen tun werden, verändert die Lage in Europa wie ein
Weltkrieg und macht aus ihnen und 16 Millionen Landsleuten ein Jahr später Bundesbürger. Reila
Mittenzwey legt sich wieder ins Bett, nachdem ihr Freund das Haus verlassen hat. Die 29jährige ist im
sechsten Monat schwanger und nutzt jede Chance zur Ruhe. Um 14 Uhr muß sie zur Arbeit.
Auf Gerhard Lauter, den "Hauptabteilungsleiter Paß- und Meldewesen", warten im Innenministerium zwei
Obristen der Staatssicherheit. Sie übermitteln dem 40jährigen den Auftrag, noch am selben Tag einen
"Beschluß zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die
CSSR" auszuarbeiten.
In den letzten 24 Stunden seien mehr als 20 000 Republikflüchtlinge über die Tschechoslowakei entkommen,
teilen die Generäle der Staatssicherheit mit; die tschechische Führung beabsichtige, ihre Grenzen zur DDR
zu schließen, weil "sie ein Überschwappen der Zersetzung auf ihr Land befürchtet".
Durch den Sturz Honeckers, drei Wochen vorher, war auch die unverbrüchliche Freundschaft der Betonköpfe
in Prag und Ost-Berlin brüchig geworden, so dass KP-Führer Milos Jakes nicht länger den Müllmann für
seinen neuen Kollegen Kreuz abgeben will.
Zwei Tage vorher, am 7. November, hatte das Politbüro der SED über die Massenflucht diskutiert und Gegen-
maßnahmen erörtert. Den Vorschlag, Zehntausende Republikflüchtlinge ohne Prüfung direkt von der DDR in
die Bundesrepublik ausweisen zu lassen, verurteilten die Haudegen unter den 23 Politbüro-Genossen als
Aufgabe hart erkämpfter Positionen, gar als Revision der Nachkriegsordnung. Eine zweite Mauer zu bauen,
einen antisozialistischen Schutzwall zur CSSR, das wird einmütig abgelehnt, selbst die vorgeschlagene
leichte Stacheldrahtversion schaffe nur neue Probleme: Dann müsse man mit Flüchtlingslagern von Tausenden
Familien und mit Massenattacken auf den Zaun rechnen. Andererseits steht die Drohung der Bruderpartei
im Raum: "Wenn ihr die Grenze zu uns dichtmacht, machen wir sie zu."
Schließlich wird der Rücktritt des Politbüros erwogen und die Einrichtung eines "Runden Tisches" bei gleich-
zeitiger Schließung aller Grenzübergänge. Aber auch diese mehrmonatige Quarantäne. das erkennen selbst die
Politbürokraten, hat ihre Tücken: Man könne die Ausreise zwar verbieten, aber nur mit Waffengewalt stoppen.
...auch hier kann man weiterlesen:
https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery ... f/13501166
W. T.