Gedichte und Prosa der DDR

Die Ecke für dies und das...

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Rainman2 » 30. September 2011, 13:05

vs1400 hat geschrieben:DER VORMARSCH
DER WEISSEN HAARE

...

Dazu eine kleine Ergänzung aus der dumpfen Ecke der Gebrauchslyrik:

GEBURTSTAG

Kalenderblätter prasseln auf Dich nieder
Und hämmern Silbergrau in jedes Haar.
An Säcken tragen schwer die Augenlider,
Dein Spiegelbild signalisiert Gefahr.

Es ist dies dumpfe Drohung für Dein Selbstbewusstsein
Und, schlimmer noch, für die Beziehungsfähigkeit.
Muss dieses schlaffe Fleisch denn um die Brust sein?
Der Bauch scheint auch für größere Konfektion bereit.

Das kann Dir schon einmal den Tag verderben,
jedoch da fällt Dir ein, grad noch zur rechten Zeit,
das einzige Mittel gegen Altern ist Jung sterben
Und das ist blöd, drum werd ein alter Sack in Fröhlichkeit!

(ist eines der wenigen aus alter Zeit, die ich einfach nicht wegschmeißen möchte ...)

ciao Rainman2
Rainman2
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Dieter1945 » 1. Oktober 2011, 18:31

Die Sperre
Von Helmut Preißler
Da liegen Minen vergraben von Menschen, die lieber Korn gesät hätten.
Da recken sich Sperren auf, Stahl und Beton, tauglich zum Häuserbau.
Und der Draht wäre ohne die Stacheln nützlich für nützliche Dinge.
Doch die Minen legten,haben auch Korn gesät und sollen ernten.
Die Sperren errichteten, haben auch Häuser gebaut und -wollen darin wohnen.
Die Stacheldraht zogen, haben nützliche Dinge geschaffen, die bewahrt werden sollen.
Tödliche Saat ist gelegt gegen die Saatenvernichter.
Sperren recken sich auf gegen die Häuserzerstörer.
Stachelbewehrter Draht liegt vor nützlichen Dingen.
So werden wir ernten und sicher wohnen und nützlich leben.
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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Dieter1945 » 1. Oktober 2011, 18:35

Aus dem Brief einer Mutter an einen Soldaten der Grenztruppen

.... Du weißt, was Du tust und warum.
Als Grenzer hast Du die Gegenseite direkt vor Augen, und ich kann mir vorstellen, dass einem diese Konfrontation das Gefühl gibt:
Ohne mich wäre das Land hinter mir denen ungeschützt ausgeliefert.
Du siehst den Feind, hast ein Bild von Ihm, weißt, daß er vor Mord nicht zurückschreckt,
und Du haßt ihn.
Das ist gut so. Wer nicht richtig hassen kann.der kann auch nicht richtig lieben......

Gisela Karau

Aus dem Artikel „Heute seid Ihr selbst Beschützer".
Veröffentlicht in Volksarmee (Wochenzeitung der NVA")
Ost-Berlin Nr. 52/1977
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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Edelknabe » 1. Oktober 2011, 19:01

Lieber Hgoc!

Ich werde dir die Geschichte von Xang erzählen. Eine Gruppe
Amerikaner war dabei, die Frauen des Dorfes vor den Augen ihrer
Männer und Kinder zu vergewaltigen.
Xang kam, als Wut und Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht hatten,
und er wollte unter Aufopferung seines Lebens den Amerikanern eine
Lehre erteilen. Er begann sie laut zu verfluchen und unterbrach sie einen
Augenblick, dann schnitt er sich den Bauch mit einem Messer auf, riß
sich die Eingeweide heraus und warf sie ihnen ins Gesicht. Die
Amerikaner gingen, aber sie fielen in die von uns aufgestellten Fallen;
das waren Bretter mit Eisenspitzen, und diese Spitzen drangen in ihre
Füße, so das sie nicht mehr weg konnten. du kannst dir das Weitere
vorstellen...

Aus dem Buch " Vietnam in dieser Stunde"/ Mitteldeutscher Verlag Halle/Saale 1968

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Edelknabe » 1. Oktober 2011, 19:11

....mag sein, das sie nervös waren-
da war eine vietnamesische Mutter mit drei Kindern.
Sie riß eines an sich. Der Soldat erschoß die beiden und das Kind auf ihrem Arm
und schoß ihr dann
in den Bauch.

Richard Tragaskis
Vietnam-Tagebuch

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 4. Oktober 2011, 23:20

SCHWÜLE

Leipzig im mittagsglast flimmert als stummfilm zu dem
dilettanten auf mißgestimmten pianos hämmern
Zwischen pleiße & elster die lauchgrünen waldauen
verwesen wie dschungel
Die sonne von stahlmasten angeritzt – ein reifer
camembert an den himmel gekittet
Zähen teerflecken, von rädern zernarbt, entströmt das
aroma der raffinerien
Radfahrer auf dem gebeutelten asfalt ereilt manchmal
der kollaps
Alle fernstraßen tragen die spuren von fluchten
Übergeschwappt sind die randvollen wohnstädte an den
säumen der city
Scharf bremst & mit scheppern ein monströser
transporter, beladen mit platten & halben zimmern
kurz vor der kreuzung
Ein junge liegt mit gesprungener lippe hechelnd im
gras, an der böschung das zerrittene moped
Hochfrequent summen die drähte, läufige köter
scharren an ihren zerbissenen lenden
Kinder in schmutzigem turnzeug sind des
betonmischers weltraumpiloten

*
An den heißesten tagen des jahres fang ich erst an
wieder zu leben
Wechselwarm wie die echsen jag ich gleich tausenden
zu den wassern der gruben
Allein durch die sonnenbrille gelingt mir eine
psychedelische reise ins grün
Mit meiner bloßen haut bin ich ein kraftwerk, ein
winziger warmer speicher für meinen planeten.

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 8. Oktober 2011, 23:02

JOHANNES IM ZIMMER

Wir hatten oktober und die rheumatiker steckten ihre
beine schon wieder in lange unterhosen, weißwürste
oder die weißen kameraden marschiern (nicht so wir)
Aber noch war eigentlich pilzwetter und ich wäre gern
mit dir in ein niemandsland geritten um eine morchel
zu krönen für meinen kleinstaat paravent
Du trugst schwarze kordhosen – wie ich – aber dir ste –
hen sie besser, wir waren nach innen sehr nackt & au –
ßen bemühten wir uns einander nicht wehzutun (wir
drückten zum beispiel die kippen nicht auf der haut
des anderen aus)
Ich meine, wie du dich dann aus der affäre ziehst, so
stelle ich mir immer den abgang des hagen von tronje vor,
nur bade ich immer seltner in drachenblut und das
merkt man natürlich, auch an der art wie ich seile ver –
knote den gürtel eng schnalle & die schleifen der
schnürsenkel binde und fertig bin um zu gehen
Du hast mir kein schwert in den rücken gejagt, die
quelle aus der ich gerade trinke, fließt nach drei rich –
tungen ab, südlicher wären wir schon verdurstet. Am
ende verriet ich dir noch eine geheime stelle mit me –
tastasen
Aber wie schnell hat man die hüte so durchprobiert, die
einem passen, ich lege viel wert auf gepflegte lippen,
welches deodorant wollen wir heute benutzen, die luft
riecht nach adrenalin
Möglich, ich habe mich schon an ein zuhause verloren,
die watte der kachelöfen (auch Berliner genannt)
lähmt meine aufbruchsneurose, ich rauche dir etwas
vor doch der husten verrät mich
Wir hatten oktober, es war gerade mal wieder modern
Sich fleckige katzen zu halten
ich schnitt
ein aquarium in dein palästinensertuch (arafat –
schleier) und verlieh dir im weggehen noch schnell
einen
böhme – preis
das ist ein zinloser übernachtungskredit, und im stil –
len hoffe ich, du kämst nicht gerade vormittags
viertel nach elf.

Berlin, den 15. Oktober 1983



Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

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vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 12. Oktober 2011, 23:48

BIRTHDAY BANAL

Ich lese die zeitung von gestern die zeitung von
Heute --- und gleich noch die zeitung von morgen
(Was man hat, hat man)/ jede nummer von hinten
Beginnend mit den herzlichen glückwünschen der
Volkssolidarität für veteranen und den empfehlungen
Meines stadtreporters fürs wochenende (diesmal zum
Bärtigen alten: es steht uns schon wieder bis vor
Die tür!). Ich habe geburtstag und immer noch keine
Aussicht auf freude am altern und softeis / die
Straßenbahngleise wachsen weiter ins neubaugebiet.
Die gäste lassen die aufgezogen plastikmäuse
Übern korridor flitzen / ich bin mein eigener parodist
Und die zombies lachen sich wiedermal scheckig
Über den kleinen pimmel auf einem verunglückten
Pornofilm den man versehentlich mit der morgenpost
In den schlitz warf / mein einziger freund ohne
Gummitier schickt aus gesicherter ferne bleistift
Skizzen von selbstmördern die mir von mal zu mal
Immer ähnlicher werden / er weiß daß ich ohne ihn
Nur papiertaschentücher vergeude und die zeitungen
Rückwärts beginne um fahndungsfotos & geisterbilder
Mit seinen porträts zu vergleichen (ja man
hat seine kleinen freuden!) / es lärmen die trunkenen
auf den geliehenen möbeln man kührt mich zum depp
Der nation meint es politisch, nicht böse,
Und in einen sessel gedrückt heult die müde marlene
: Bruder wind hat ihr neulich ein liedchen erzählt.
Lähmungen ganzer kanäle werden zum anlaß für neue
Gerüchte um meine verdauung und die träume des
general
Konsuls einer alten vertretung und als eine torten
Schlacht anhebt feiert herr nichts seinen sieg über
Den germanist – aspiranten geist / alle restlichen armen
Würstchen werden verbraten es läuft eine platte
Mit tondokumenten zur deutschen geschichte (7. Klasse)
Jemand empfiehlt mir darüber gedichte zu schreiben
Man frißt, demoliert sich und ist guter dinge am ende
Verwechseln sie ihre bronzemedaillen mit münzen für
Spielautomaten und nässen die weißen tapeten, den
Teppich / ich sitze auf trümmern von sesseln und lese
Rückwärts die zeitung des leipziger volkes: Angeklagte
der antwortet, gewesen Absicht seine nicht sei Das.

24. november 1983

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Interessierter » 13. Oktober 2011, 12:31

Das ist zwar nicht aus der DDR, aber was solls:



Tränen kotzen

Wenn ich durch die Straßen gehe
und die Menschen handeln sehe,
frag ich mich: "Ist das normal?"
Was ist die Welt doch kalt und fahl!

Wenn Säufer an den Straßenecken
trinken, bis dass sie verrecken,
Kinder in den Schulgebäuden,
mit Gewalt die Zeit vergeuden.

Wenn Fußballstars Millionen kriegen,
während Fans im Kampf erliegen,
Politiker trotz Eid betrügen,
ihr Volk vor jeder Wahl belügen.

Wenn der Schmarotzer stolz gesteht,
wie gut es ihm in Deutschland geht,
während andre täglich schaffen,
sich Tag für Tag durchs Leben raffen.

Wenn Schönheit wird mit Geld gekauft,
der Junkie sich für Drogen rauft,
die Kids mit Markensachen protzen,
dann könnt ich nur noch Tränen kotzen.

Norbert van Tiggelen
Interessierter
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 4. November 2011, 12:29

HEISSER HERBST

Oktoberhunger, die blanke gier
Nach den glatten kastanien
Grell loht der sanddorn
An der friedrichshafener straße
Das milde pflaumenmus in der küche
Im keller eingemachtes & viel feines holz
Der zentner keimgestoppter kartoffeln,
Eins kommt zum anderen und schon erhöht
Eine husche im kachelofen
Das leibliche wohl ganz beträchtlich
Drachenwetter
Satellitenwetter
Nur die unverbesserlichen
Fiebern täglich nach
Letzten meldungen

2. oktober 1983

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 31. Dezember 2011, 00:51

GERÄUSCHE

Etwas das wie ein sterben vom radio herüberweht könnte
Aus mahlers dritter symphonie stammen, etwas das wie
Ein katapult schnipst wird die frau sein die nägel ver-
Schneidet, etwas, - was englisch soviel sanfter klingt:
Something – ging verloren gestern oder vor dreitausend
Jahren, etwas warmes bewirkt, daß der kühlschrank
summt.

Etwas leiser bitte, natürlich war es nicht mahler sondern
Ein teller der an die wand schlug, geworfen vom teller –
Wäscher nach elf, etwas leiser bitte! Natürlich schnipsten
Die nägel gegen die fensterscheiben wie daumendicke
hagel –
Körner, etwas leiser und man verstünde wieder das
eigene
Wort und das des andern in angemessener entfernung.

Etwas das mich aus dem schlaf schreckt wird der frieden
Sein – daß er kommt oder geht, seine abwesenheit nicht
Verrät bis zum schluß, etwas was meine geduld auf die
probe
Stellt nennt sich einfach gehörprobe und war ein schrei
Aus dem keller etwas weihnachtsmusik, etwas schlürfen
Etwas schmatzen, etwas schmeicheln, etwas kratzen usw.

Etwas wie trillerpfiff, etwas wie sirenenton, etwas
Kolbenstampfen, etwas wie schleifen auf nacktem boden
Etwas wie kahlschläge, etwas wie nackenschläge, etwas
Dumpfes, etwas bedrohliches, etwas süßliches wie aus
Mahlers dritter symphonie weht herüber vom radio von
Einem kurzwellensender, mal leise mal laut mal lei

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 31. Dezember 2011, 00:59

GEFILTERTE TAGE

Ein neuer, potemkinscher park vorm gemüsegeschäft
weihnachtskiefern werden verkauft
Ines ruft an um mir zu sagen wo’s langgeht im
schlarAffenjahr 84
Anne ruft an, sie hätte gerade ‚nen brief abgeschickt an
meine adresse
Ich sagte: die wird sich freuen, sie stimmt noch. Wie
hälst du das aus?
My dear lady ann schreibt: ach, tom mit dem dreimal
härteren „t“
Gehärtete „t“s als krücken auf den glatteisigen wegen
Ich halt mir ein sieb vors gesicht und finde mich
plötzlicher
sympathie ausgeliefert
Es kommen ganz freundliche strahlen aus dem
rundfunkempfänger marke „stern“. Ein kosmopolit
schimpft
auf die weltbank
Da möchte ich auch gern sitzen, die
sonnenuntergänge versteigern
Ich wüßte vielleicht einen fuchs für verrückte auktionen
Aus rezensionen schlagen mir wellen von mitleid
entgegen
Dennoch gepriesen gefördert wird ich mir schon etwas
winterspeck klemmen
Rabe ruft an, will wieder alte platten verhökern
Er weiß, ich brauch immer mal was für die wände
Vom westen regnet es weihnachtspakete mit
probetuben der chlorodont – forschung
Ich geh aufn zahnpastatrip, sehen was da rauskommt
Keine geschmuggelten fuffzig – markscheine wie ich
hoffte
Man kann sich gewöhnen: die baumleichen vorm
fenster
kein wölkchen
mit schnee,
aber warum an dieser stelle einen
palmgarten pflanzen?
Wie exotisch wäre dies plätzchen! Fehlte noch ne
rotunde oder ein springbrunnen‘ n mitropakiosk
Ich lese hans henny jahnn – fünftausend seiten – um
einen satz
eddi endlers nachzusteigen
Herr nichts aus der steilen ecke frohlockt:
dem böhme, dem böhme, dem ist nun endlich der
stoff ausgegangen
Richtig, ich bin runter vom stoff, und es lebt sich
O nymphomanische anna, woher soll ich tröstliches
nehmen für dich, deine kinder, die erschrockenen
tanten?
O ines, du reine, wußstest du nicht von den
gefährdungen nach deiner teuflischen waschung?
Ruft nur an, und ich werde euch treu sein mit meiner
geballten hoffnung
Gefilterte tage, ein schneeflockenhaus für mein
weib & den voodoo – meister
(er ruft meinen namen)
aus dem sommerlied
die haut wie chagrin …

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Ameisenferdinand » 23. März 2012, 21:01

Nein,
sage nicht
das du mich liebst
oft, ja viel zu oft
hört man diese Worte!
Sei einfach nur da für mich
gib mir Geborgenheit
und habe Vertrauen
und lass mich fühlen
das du mich brauchst.
Und dann.
dann
rede von Liebe!
Ameisenferdinand
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 23. März 2012, 22:54

Ameisenferdinand hat geschrieben:Nein,
sage nicht
das du mich liebst
oft, ja viel zu oft
hört man diese Worte!
Sei einfach nur da für mich
gib mir Geborgenheit
und habe Vertrauen
und lass mich fühlen
das du mich brauchst.
Und dann.
dann
rede von Liebe!


hallo Ameisenferdinand,

darf man erfahren von wem es ist? [ich auch]

gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Ameisenferdinand » 24. März 2012, 10:26

Naja, das ist von mir selbst, aber ganz ehrlich das hab ich damals in der DDR geschrieben. Das war so eine Zeit, da hatten die Mädchen fast alle ein Poesiealbum, ich weiss gar nicht ob es sowas heute noch gibt. Und da war ein Mädchen in meiner Klasse, nun die war mir nicht egal, aber ich war einfach zu schüchtern damals ihr das zu sagen. Als sie mich bat etwas in ihr Poesiealbum zu schreiben ist dieses Gedicht entstanden.
Aber leider hat sie den Wink mit dem Zaunpfahl nicht verstanden und mich da ziemlich unglücklich verliebt zurückgelassen.
Wie dem auch sei, das ist lange her aber seitdem ist mir dieses Gedicht trotzdem im Gedächtnis geblieben. Und da es in der DDR entstanden ist, quasi von einem jungen aufstrebenden Poeten :-) dachte ich das ich es hier schreiben könnte. Es ist natürlich nicht ganz DDR-typisch, es fehlt eine revolutionäre Entschlossenheit und eine Kritik am kapitalistischen System oder wenigstens ein Hohelied auf den Sozialismus. Vielleicht hätte ich eine "Ode an einen Traktoristen" schreiben sollen, aber ich war damals einfach nur verliebt und habe das in Worte kleiden wollen.

Andreas
Ameisenferdinand
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 24. März 2012, 13:07

hallo Andreas,
mir hat es sehr gefallen. [rose]

Die Nacht streckt ihre Finger aus

Die Nacht streckt ihre Finger aus
Sie findet mich in meinem Haus
Sie setzt sich unter meinen Tisch
Sie kriecht wird gross sie windet sich

Und der Rauch schwimmt durch den Raum
Wächst zu einem schönen Baum
Den ich leicht zerstören kann
Ich rauche einen neuen, dann

Zähl ich alle meine lieben
Freunde an den Fingern ab
Es sind zu viele Finger, die ich hab
Zu wenig Freunde sind geblieben

Streckt die Nacht die Finger aus
Findet sie mich in meinem Haus
Rauch schwimmt durch den leeren Raum
Wächst zu einem Baum

Der war vollbelaubt mit Worten
Worten die alsbald verdorrten
Schiffchen schwimmen durch die Zweige
Die ich heut nicht mehr besteige

Sarah Kirsch "Katzenkopfpflaster"

gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Ameisenferdinand » 24. März 2012, 18:52

Von Sarah Kirsch kenne ich eigentlich nur eine Kurzgeschichte "Blitz aus heiterem Himmel" die habe ich vor etlichen Jahren mal gelesen. Das war so eine Sciene Fiction -Geschichte. Damals hab ich alles gelesen was ich in der Hinsicht in die Hände bekam.
Es handelt von einer Frau die über Nacht in einen Mann verwandelt wird.
Von Karl Mickel (War mal mit Sarah Kirsch verheiratet und hat mit ihr einen Sohn) hatte ich mal einen Gedichtband "Odysseus auf Ithaka" das hatte mir damals eigentlich gefallen.
Andreas
Ameisenferdinand
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 26. März 2012, 13:42

Homo automobilis

Mit dem Zeige-, Mittelfinger
den Gummistreifen entlangfahren
Chrom beklopfen, das Blech drücken
Türen streicheln

Der Geruch der Plaste
des frischen Lacks, des Polsters

Sitze ausprobiert, die Lehne
das Lenkrad bewegt, die Bespannung des Stoffs
übern Kopf gefühlt
nahtlos
wie Christi Gewand

In schockfarbener Chitinkarosse
Teil deiner selbst
wie das Geschlecht, die Zähne
Nerven
von Scheinwerfern bis zum Schlußlicht

Das Hirn eilt voraus, zerteilt Ströme
Langsamfahrender

Homo automobilis:
vierrädrig
mit zeitweiliger Sucht
zum nomadenhaften Umtrieb

Reinhard Bernhof „Tägliches Utopia“

gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 26. März 2012, 22:15

DER 31. OKTOBER 1983

Es war vesperzeit ich kam ziemlich pünktlich aus dem
büro du schobst reformationsbrötchen in die gasröhre
(wie einst doktor luther) und während sie buken über –
schwemmte der waschautomat die küche. Du kochtest
unbeirrt starken kaffee die rosienen der brötchen waren
verkohlt du nanntest mich einen banausen weil ich das
luthergebäck mit käde & ketchup aß dann gingst du zur
frauengruppe und gegen elf hatte ich die dielen unterm
linoleum wieder trocken die schränke an ihren alten
plätzen und die scheuerlappen über die leine gehängt.
Ich holte dich ab und freute mich weil du vor tatendrang
sprühtest wir lauschten den nächtlichen bahnen und
pumpten sternregenluft in die lungen. Auf den matrat –
zen feierten wir noch einmal herrn luther und das ging
dann bis in den frühen november.

Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“

gruß vs

ps: was ist ... käde & ketchup ... ?
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon Ameisenferdinand » 6. April 2012, 21:26

Wer bin ich? Wohin gehe ich?

Du siehst nur

Ein Bild,

das in deinem Kopf entsteht,

wenn du mich siehst

oder mich hörst.

Aber wer ich wirklich bin

Tief in meinem Inneren

Meine Seele

Sieht nur

Wer mit dem Herzen schaut!

Andreas
Ameisenferdinand
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 20. Oktober 2012, 22:38

AN DEN KOLLEGEN IM RUSSISCHEN SEKTOR
( Gottfried Benn an Bertold Brecht )

Man geht sich aus dem Weg, man würde sich nicht grüßen.
Zum Glück, Berlin ist groß und neuerdings geteilt.
Gewiß, es ist Sie, daß Sie manchmal für die süßen
wohlfeilen Schnuten schwärmen, und was soll man dafür büßen,
daß Verstand oft aussetzt, ewig eingekeilt
von Ritualen und der Lust auf einen Ritt.
Der Rest ist Affenzirkus, Suppenkasperei, Verschnitt.

Wenn man beim Biere sitzt, vom Fusel leicht benommen,
dann fragt man sich, was dieses Pack erregt.
Was man auch hören mag, es bleibt verschwommen.
Selbst wenn Sie meinen, bessre Zeiten kommen,
falls man die roten Gäule sattelt. Es ist nicht belegt,
daß, was von unten kommt, an seinesgleichen denkt.
Ein Prost auf die Spelunke, und der Rest: geschenkt.

Der Schleim, der in uns kocht, und nicht die Illusionen
bewegt die Welt, Sie müßten das doch wissen.
Bestand allein hat das Erinnern an die Konvulsionen
in diesem oder jenem Schoß, und dann verschlissen
die schönen Leiber, krätzig, ausgeschissen.
Und denken Sie, man schert sich um Besatzungszonen,
wenn man es warm hat, seinen Koks und Sprit?
Der Rest ist Affenzirkus, Suppenkasperei, Verschnitt.

Und hören Sie, Sie sollten auch im Sommer sterben.
Man hat gesudelt und gebarmt, und das, was bleibt,
verscherbeln eh die Herrn und Damen Erben.
Und was den Preis dafür noch in die Höhe treibt,
ist Schweinekram, den man auf die Serviette schreibt,
um da dies Kind aus Milch und Honig zu verderben.
Drum trink ich ihnen zu, egal, ob es Sie kränkt.
Ein Prost auf die Spelunke, und der Rest: geschenkt.


gruß vs
vs1400
 

Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 26. Oktober 2012, 22:55

GLEICHMÄSSIGER ALTERN!

O armseliger Rabunde. Bedauernswerte Grafitta! Wie unterschiedlich
sind doch die Temperamente des Alters.
Du willst fort. Steinerne Hochzeit. Du willst nichts. Du willst
bleiben. Nur noch bleiben. Einwachsen in die Wände.
Luftzug und Spinnvokale huschen an deinem abgeschatteten Ohr.
Man hat Füße hinausgetragen. Die waren noch rosenfeucht und man
wußte an ihnen die Furchen der Kinderböden zu zählen.
Man hat auch Abdrücke von ungeformten Händen in den
Staubquadraten der entrüsteten Zimmer gefunden.
Weiß das Haar. Die Gesichter von eingestreuten Pigmenten verinselt.
Monomanisches Nicken. Wackelkontakt in der Birne.
Du hast das andere Wort für Wünsche vergessen.
Du schwörst auf den Sud aus Eichenrinde für das Bad der Abszesse.
Dagegen sind die photographischen Musterbilder von Milchrampen,
von den Fuhrwerken mit Aluminiumkannen nicht unterzukriegen.
Das Essen kam immer in einem dreiteiligen Kochgeschirr, der
sogenannten Menage. Sie band dir mütterlich einen Sabberlatz. Er
prüfte mit seiner Hand die Flamme des Spirituskochers.
Die aufgebrochenen Grinde an den erfrorenen Zehen vom
Kriegswinter 44. Und die Hungerödeme vom Friedensjahr 46. Was
aber ist mit den ungeraden Zahlen geschehen?
Ich habe noch Zeitungen aus der Sowjetzone, hat er gesagt.
Sie sprach: Wir wickelten Klopapier um die Schenkel gegen die
juckenden Wollstrümpfe.
Weißt du noch? Hör schon auf!
Ich hab siebzehnmal Erde auf Särge und Urnen gestreut.
Mindestens neun waren jünger als du.
Aber geh! Hast du Fränzchen nicht mitgezählt?
Der Ekel ists, der uns aneinanderkettet.
Die Liebe zum Hergebrachten. Die Wunschkost aus der Assiette.
Du wirst es ihm doch nicht nachtragen, wenn er sich einst als erster
aus dem Staub gemacht?
Er ist noch gar nicht zurückgekommen!
Westfront. Ostfront. Die Nebenschauplätze. Die Gefangenschaften. Er
kriegt so ein Schwärmen in der Stimme, wenn er die Standorte
aufzählt.
Sie hat ihre Augen an der Nähnadel ruiniert.
Das Enkelpack erkrankt an den eigenen Bagatellen. Bloß keine Fragen
stellen. der Vorrat an Sippenverbindlichkeiten ist aufgebraucht.
Das Spranzband.
Die Schnabeltasse.
Die Haftcreme.
Das Nachtgeschirr.

(Thomas Böhme/ VOM FLEISCH VERWILDERTER FLECKEN)

gruß vs
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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 19. Februar 2014, 00:03

Aus dem Stundenbuch

I

Freunde fragen mich oft warum ich nicht lese und meinen da-
mit warum ich nicht LESUNGEN halte. Antworte ich: zieht euch
nackt aus legt eure füße gegeneinander zerreibt zwischen eu-
ren fingern den rauch laßt die öfen nicht ausgehn, auf einer
leiter möchte ich sitzen & von acht kerzen beleuchtet werden
oder von luzifers 60-watt-birne mit der hand an den stuck an
an der decke der reichen mitten unter euch sein wenn ihr büffel-
augen habt dann werde ich lesen, sagen sie ASCHE und tippen
an ihre hellbraunen stirnen.

II

Welt dringt in mich ein wie licht durch gemalte fenster ein-
dringt die fassaden schlagen zu frust geht um. Die abenteuer
spielen sich in deinem kopf ab tröstete mich ein charmanter
conferencier und ein lehrer sagte mir: du bist ein schlechter
lügner du kannst schrifsteller werden. Das war eine rüge auf
die ich stolz bin doch die sprache entzieht sich, meine letzte
unsichtbare zuflucht. Ich stammle wenn ich erzählen soll und
schreibe nicht priestern & potentaten, die schreibmaschine
könnte mich denunzieren.

III

Wieder eine von diesen höllischen nächten wir hatten fünf
oder sechs theaterstücke in N.s wohnung gespielt als man uns
wegen ruhestörenden lärms raußschmiß. Wir zogen mit bau-
chigen GAMZA- flaschen zum eifelturm, rosental, den man zu
jeder tages- & nachtzeit besteigen kann und drüber flimmer-
ten mars & jupiter in aufregender konstellation sagen die
astrologen. Als die ersten den mageninhalt übers geländer
schikten als L. seine flügel breitete als K. sich die gitarre
setzte als D. anfing wie ein propeller zu kreiseln sagte jemand
ganz zaghaft zu mir, komm wir gehen nach hause und so
wurd's die sanfteste nacht.

März 1980

( Thomas Böhme/ Mit der Sanduhr am Gürtel)

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 1. Mai 2014, 08:35

VOM MINIMUM

Noch ist der Tag nichts als klammes Niemandsland zwischen
Osten und Erde, doch flugs wird der Habenichts lauthals
....gerühmt von
Tausenden Vögeln! Auch wo der Himmel verbaut ist, etwa in
Leipzig, es reicht, dass sie da sind- und? Sie lassen sich hören!
Irgendwas braucht bloß Baum zu sein neben den Steinen,
....gleich gehts
Rund! Ein Achtel Grün, und sofort die besondere Leistung, ja
Schon auf fraglich bequemen Dachfirsten haben sie Töne!

Richard Leising

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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 1. Mai 2014, 22:19

BANKETT

da stehen Die da und stehen da Die saufen
den Sekt des volkes Diese
Fressen
aus der hand ihm
den Caviar

Richard Leising


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Re: Gedichte und Prosa der DDR

Beitragvon vs1400 » 29. Mai 2014, 21:30

AUCH ICH

Auch ich trug es stolz geschwellt, das Hitlermesser
Ein ganzes Jahr und wenig mehr
Das mit der Blutrinne in der Klinge, ich trug es
Ehe ich es vergrub in die Erde bei Floßmühle
Als da die Russen kamen mit Liedern
Die ich mitgrölte, auch ich

Ich war unter euch, die wir Steine warfen
Die ersten nicht, aber Steine, und auf die anderen
Auch ich tanzte Liebe Laurentia mein
Unter dem Bäumlein, sechsundvierzig, am Ersten Mai
Ein guter Mitwerfer gut mitlaufend, Mitbesitzer
Der einzig wissenschaftl. Weltanschauung, auch ich

Später mein Schweigen, ich kleidete es
In edle Wendungen, ich trug, bau auf, bau auf
Meinen Stein herbei zur Mauer, auch ich
Mitpächter war ich eines Meters Todesstreifen

( Richard Leising )

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