Jahrelang war im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen ein unfähiger Mann für die Behandlung schwerkranker Gefangener zuständig. Mielkes Schützling hatte uneingeschränkte Macht über die Insassen, bis der Häftlingsarzt 1962 endlich suspendiert wurde.von
Hubertus KnabeDer Minister für Staatssicherheit muss ein Faible für den Mann mit dem welligen Haar und dem leichten Doppelkinn gehabt haben. Anders ist es jedenfalls kaum zu erklären, dass Erich Mielke ausgerechnet Wolfgang Dorr zum Leiter seines Haftkrankenhauses machte – ein «Scharlatan», dem Ärzte der Berliner Charité später «fundierte ärztliche Kenntnisse und Fähigkeiten» absprachen. Bis Mielke ihn endlich von seinen Aufgaben entband, waren Hunderte politische Häftlinge dem Stasi-Major im weissen Kittel hilflos ausgeliefert.
Die Geschichte des Häftlingsarztes der Stasi ist so unglaublich, dass sie einen auch heute noch frösteln lässt. Jahrelang war in der DDR ein unfähiger Mann für die Behandlung schwerkranker Gefangener zuständig. Der Arzt, der 13 Jahre für sein Studium brauchte, begann schon 1945 für die kommunistische Geheimpolizei zu arbeiten, erst für die Sowjets, dann für die Stasi. Mitte der 1970er Jahre wurde er ein zweites Mal als Informant angeheuert. Dazwischen lag sein Aufstieg und Fall im Stasi-Gefängnis von Berlin-Hohenschönhausen, in dem Mielke seine wichtigsten Häftlinge in dunkle Kellerzellen eingesperrt hatte. Erst ein unglücklicher Sturz auf die Bettkante bereitete dem Spitzelleben des Arztes 1982 ein Ende.
Behandlungen in Eigenregie
In der überfüllten «Bruchbude», wie Dorr das Kellergefängnis nannte, hatte der Mediziner Ende 1956 angefangen zu arbeiten – zunächst nur nebenberuflich, dann als hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter und ab 1960 als Chef des neuen Haftkrankenhauses. Die Klinik hatte Mielke auf dem Gelände der Haftanstalt einrichten lassen, um auch schwerkranke Häftlinge in Eigenregie behandeln zu können.
Hätte der Minister den Berichten seiner Untergebenen mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte er vielleicht jemand anderen genommen. Bei Dorrs Überprüfung war nämlich herausgekommen, dass er «organisatorische Schwächen» besitze, «sehr redselig» sei, «etwas geltungsbedürftig» und zudem «leicht erregbar».
Mielkes Stellvertreter Bruno Beater nahm den Stasi-Arzt genauer unter die Lupe. Fast zwei Jahre lang wurde er rund um die Uhr observiert und abgehört. Wenn er Besuch hatte, sich mit seiner Frau unterhielt oder mit seiner Sekretärin telefonierte, wurde nun jedes seiner Worte aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen dieser totalen Überwachung geben einen tiefen Einblick in das Denken und Handeln eines hochrangigen Stasi-Funktionärs – so unverstellt, dass Mielkes Leute sie noch Jahrzehnte später, im Herbst 1989, in kleine Stücke zerrissen.
Liest man die wieder zusammengesetzten Aufzeichnungen, ergibt sich das Bild eines labilen, skrupellosen Mannes, der seine Umwelt mit Misstrauen, Neid und Hass betrachtete. Seine Mitarbeiterinnen waren «Huren», sein Parteileiter eine Fehlbesetzung, der Gefängnischef «das grösste Mistvieh auf dem ganzen Platz». Nur einen verehrte er wie einen Vater: Erich Mielke, den er in einer Mischung aus Angst und Bewunderung immer nur «den Alten» nannte. «Ich wünschte mir, so denken und handeln zu können wie der Minister», erklärte er einmal einem Kollegen, «er ist wirklich Vorbild.»
«Es sind noch genug da»
Vielleicht war es die autoritäre, brutale Art, die Dorr an Mielke bewunderte. Wie dieser trat auch er mit Vorliebe als gestrenger Patriarch auf, der seine Mitarbeiter herunterputzte, gegeneinander ausspielte und manchmal unerwartet lobte. Sie mussten nicht nur bei ihm zu Hause sauber machen oder seine Frau zum Einkaufen fahren, sondern konnten auch schon mal für ein paar Tage in einer Zelle landen – wie jener Wachmann, der mit einer verheirateten Kollegin ein Verhältnis angefangen hatte.
Vor allem teilte Dorr aber mit Mielke die Gleichgültigkeit gegenüber den kranken Häftlingen. Der Minister hatte ihm eingebläut, man dürfe ihnen nicht allzu viel medizinische Hilfe zukommen lassen, da sie bis jetzt ja auch «draussen herumlaufen und Spionage machen» konnten. Entsprechend behandelte Dorr die Gefangenen. So berichtete er einmal seiner Frau, die sich später das Leben nahm, über ein Gespräch über einen schwerkranken Häftling. Zum Sanitäter habe er gesagt: «Lass den doch liegen, wir haben alles getan.» Der Mann habe schliesslich eine Liegeerlaubnis, Sonderverpflegung und Medikamente bekommen. Nur ins Haftkrankenhaus habe er ihn nicht aufgenommen, weil dies die Vernehmung unterbrochen hätte. Als der Sanitäter eingewandt habe: «Na ja, der kann aber doch sterben», habe er geantwortet: «Lass ihn doch den Arsch zukneifen, ist doch wurscht, wenn er tot ist. Es sind doch genug da.»
Ein anderes Mal sei sein Stellvertreter aus dem Gefängnis angerannt gekommen und habe gerufen: «Herzinfarkt, Herzinfarkt!» Zum Entsetzen seines Vize sei er jedoch ruhig sitzen geblieben und habe gesagt: «Pass mal auf! Das ist ganz einfach. Wenn er jetzt einen Herzinfarkt bekommen hat, da gibt es nur zwei Wege: Entweder er stirbt, oder er bleibt leben.»
In einem dritten Fall ging es um einen Häftling, der vom Bewegungsmangel in der Zelle Wasser in den Beinen hatte und diese deshalb hochlegen sollte. Doch da er herzkrank war, habe er einen «dicken Kopf» bekommen, so dass der Sanitäter die Beine wieder nach unten habe legen müssen. Seiner Frau erzählte Dorr am Abend: «Jetzt kommt der dauernd an und jammert, der geht kaputt. Ich sage: Bitte schön, was soll denn das? Fragen Sie mal den Alten, ob er einen Totenschein hat! – Was soll ich denn machen? Platz zum Aufnehmen habe ich nicht!»
Besonders brutalDer angebliche Platzmangel hatte allerdings hausgemachte Gründe. «Wir hätten keinen Bettenmangel im Krankenhaus, wenn die Häftlinge besser versorgt und nach erfolgter Genesung das Haus verlassen würden», so beschrieb Dorrs Stellvertreter die Situation. Und als Dorrs Frau ihren Mann einmal fragte, ob er denn nicht regelmässig Visiten mache, antwortete er: «Na ja, zwischendurch mal ganz schnell. Gucke mir die an, gebe meine Anweisungen – und dann weiss ich nicht, wo ich sie hinlegen soll.» Er sage dann zu seinem Vize: «Haben wir Totenscheine da? Komm, wir schreiben den Totenschein aus – weil wir keine Plätze haben.»