Damit nicht genug: „Gegen 2135 kriminell gefährdete oder aus dem Strafvollzug entlassene Bürger wurden vorbeugende Maßnahmen eingeleitet.“ Verdächtige werden kurzfristig zur Armee einberufen, unter Hausarrest gestellt oder vorübergehend festgenommen.
Schmidt kriegt nichts mitVon diesen Repressalien bekommen Schmidt und seine Delegation nichts mit. Ihre Boeing 707 landet am Freitag, dem 11. Dezember, um 14.50 Uhr auf die Minute pünktlich in Berlin-Schönefeld. Schon den Abflug in Köln-Wahn hat die Staatssicherheit protokolliert. Am Sonntag verlässt der Kanzlertross die DDR wieder, diesmal in einem Salonwagen der Bundesbahn, der kurz nach 18 Uhr die innerdeutsche Grenze Richtung Lübeck passiert.
Zwischen Ankunft und Abfahrt tauschen sich SED-Generalsekretär und Kanzler im Jagdschloß Hubertusstock und in Honeckers Gästehaus am unweit gelegenen Döllnsee 15 Stunden lang aus. Die Atmosphäre ist entspannt, mitunter geradezu heiter. In kleinen Runden wird Kartoffelsuppe mit Würstchen gereicht, dazu gibt es Radeberger Bier vom Fass und Doppelkorn. Die Tischreden beim Bankett sind sorgsam ausgearbeitet. Ordonanzen in schokoladenbrauner Livree stehen zu Diensten, am Tor präsentiert eine Ehrenwache.
Zwangsumtausch und ReiseerleichterungenEinmal lässt Schmidt sich, an Honecker gewandt, sogar zur Anrede „verehrter Freund“ hinreißen. Gesprochen wird über den Zwangsumtausch, Reiseerleichterungen, Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Kultur, den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen, die Stationierung von Atomraketen in Europa und um ganz Grundsätzliches: Die SED-Führung dringt darauf, die „wirklichkeitsfremde Doktrin“ einer gemeinsamen deutschen Nation aufzugeben, die sozialliberale Regierung Schmidt hält dagegen, der Nationengedanke sei bei allen Deutschen unverändert lebendig.
Trotz unterschiedlicher Meinungen herrscht in der Schorfheide heile Welt. Auch die Nachricht aus Polen, dass dort das Kriegsrecht verhängt wurde, kann die Idylle nicht stören. Honecker stellt sich ahnungslos, Schmidt macht keine Anstalten, den Besuch abzubrechen.
Im Güstrower Schloss arbeitet derweil die Zentrale Führungsstelle der Staatssicherheit auf Hochtouren. Bis neun Uhr, so wird im Lagebericht festgehalten, sind „alle geplanten Vorbeugungszuführungen“ erfolgt. Als Honecker und Schmidt am Sonntag um 12.59 Uhr laut Lagefilm 347/81 des Geheimdienstes in einem Wagenkonvoi Schloss Hubertusstock in Richtung Güstrow verlassen, gleicht die 39.500-Einwohner-Stadt einer Festung.
„Volles Programm“ hatte der Zentrale Operativstab für Schmidts Besuchsziel angeordnet.Am 6. Dezember war in Anwesenheit von Mielkes Stellvertreter Mittig eine „Generalprobe“ erfolgt. Inszeniert wird eine realsozialistische Satire auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Güstrower Dom. Die Darsteller sind keine Einheimischen, denn die dürfen ihre Häuser weder verlassen noch sich am Fenster zeigen. 32 Busse und drei Sonderzüge schaffen die Ersatzbevölkerung heran – alles Sammeltransporte. Mit der Bahn kommen aus Karl-Marx-Stadt, Gera, Leipzig, Halle, Magdeburg, Dresden und Cottbus 3399 linientreue Genossen. Insgesamt 5103 Bürger haben das Volk darzustellen und heile Welt zu spielen. Ironisch wird der Kanzler später anmerken: „Das war mehr, als ich erwartet hatte.“
Wie eine FreiluftaufführungDie Regisseure haben sich einiges einfallen lassen. „Familiencharakter, cirka drei Förster in Uniform (Kinder)“ lautet die Anweisung für einige der um die 70 Personen, die am staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb in Stellung gebracht werden. „Gelockert in der Bewegung, wenig gruppiert“, soll die Freiluftaufführung neben einem Kindergarten am Stadteingang erscheinen.
Zwanzig derartiger Possenspiele sind fürs Güstrower Protokoll entworfen. Beobachter sprechen von gespenstischen Szenen, die sich in der Stadt abgespielt haben, vor der Ernst-Barlach-Gedenkstätte, die Schmidt unbedingt besuchen wollte, ebenso wie auf dem Weihnachtsmarkt.
Honecker und die Spitze des Sicherheitsapparates aber schwelgen noch Tage danach im Hochgefühl. Dabei stört sie wenig, dass die Westmedien Güstrow als ein „Potemkinsches Dorf“ beschreiben. Acht Jahre vor dem Ende der DDR ist der Realitätsverlust der Machthaber weit fortgeschritten. Immerhin: Einigen Tschekisten scheinen bei der Großaktion Zweifel gekommen zu sein. In Einzelfällen, so konstatiert die Stasi in Auswertung des Besuchs später, seien die
Sicherheitsmaßnahmen von den Bürgern „als Schwäche des Staates gewertet“ worden. https://www.welt.de/politik/article7011 ... r-DDR.html