Selbstmorde nach der Wende - Die Toten der friedlichen Revolution
Die Mauer fiel ohne einen Schuss - und in Berlin stieg die emotionalste Party der deutschen Geschichte. Doch nach dem Fest gab es die ersten Toten des unblutigen Umsturzes: Stasi-Mitarbeiter und SED-Funktionäre nahmen sich das Leben. Ihr Schicksal wurde lange verschwiegen und ist umstritten - waren die Toten Opfer der Einheit?
Von Stefan Appelius
Es ist kalt und regnerisch, als Sven Bauer am Morgen des 8. November 1989 im Dienstobjekt Gosen (Brandenburg) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR an seinem Arbeitsplatz erscheint. Der 44-Jährige ist als Offizier für Auswertung und Information im Schulungszentrum für Auslandsagenten der HVA beschäftigt. Das klingt spannend, ist es aber nicht. Bauer ist eine Art EDV-Experte und verbringt die meiste Zeit am Bildschirm.
Sven Bauer, der in Wirklichkeit anders heißt, ist schon seit einer ganzen Weile mit seiner Arbeit bei der Staatssicherheit unzufrieden. Der ruhige und zurückhaltende Mann fühlt sich überflüssig. Seine Vorgesetzten, so erzählt er seiner Frau, behandeln ihn wie eine Nummer, die man hin und her schieben könne. Seine Arbeitsergebnisse würden kaum gewürdigt. Er muss abends ein paar Bier trinken, um überhaupt einschlafen zu können.
An diesem 8. November geht es dem langjährigen SED-Mitglied besonders schlecht. Dass es mit dem "Arbeiter- und Bauernstaat" zu Ende geht, liegt förmlich in der Luft. Und jetzt auch noch Probleme mit seiner Frau! Sie hat ihm am Vorabend erklärt, dass sie ihn verlassen wolle - und die Papiere schon besorgt. Bauer vermutet, dass sie kalte Füße bekommen hat, weil er für den ostdeutschen Geheimdienst arbeitet. Schließlich weiß in diesen Tagen niemand, ob es für seinen Arbeitsplatz noch eine Zukunft gibt.
Morgens gegen 9 Uhr findet in seinem Büro eine kurze Besprechung statt. Anschließend plaudert Bauer mit einem Kameraden und schüttet ihm sein Herz aus. Seine Frau wolle ihn verlassen, weil er zu viel trinke und sich nicht genügend um die Betreuung ihres Kindes kümmere, erzählt Bauer. Er habe das Gefühl, einen Tritt von ihr zu bekommen. Äußerlich wirkt der Hauptmann ganz ruhig, während er über seine Lebenskrise spricht.
"Es braucht mich niemand mehr"
Dreieinhalb Stunden später wird Bauers Büro von seinem Vorgesetzen per Generalschlüssel geöffnet: Der Hauptmann war stundenlang nicht ans Telefon gegangen. Niemand hatte ihn gesehen. Als die drei Stasi-Offiziere das Dienstzimmer 212 betreten, finden sie den Hauptmann - aufgehängt an einem Heizungsrohr. Auf dem Schreibtisch liegt ein Abschiedsbrief: "Es braucht mich niemand mehr." Explizit politische Gründe nennt Bauer zwar nicht - doch seine Verzweiflungstat dürfte auch durch die Zuspitzung der politischen Lage beschleunigt worden sein.
Nur einen Tag nach seinem Selbstmord fiel die Berliner Mauer, ohne dass ein einziger Schuss gefallen war. Menschen aus Ost und West, die sich noch nie zuvor gesehen hatten, feierten gemeinsam das Fest ihres Lebens. Doch ganz unblutig verlief diese friedliche Revolution nicht: Wo schon viele Arbeiter und Angestellte unter Zukunftsangst litten, ahnten besonders die hohen Parteikader und Stasi-Mitarbeiter, dass ihre Zeit abgelaufen war - und fürchteten sich nun vor der Strafverfolgung.
Der Tod von Hauptmann Bauer blieb daher kein Einzelfall. Allein im thüringischen Suhl begingen zur Wendezeit mehrere DDR-Funktionäre Suizid. Nur einen Tag nach dem Mauerfall erschoss sich ein Grenzaufklärer. Als die Bürgerbewegung Anfang Dezember 1989 den Gebäudekomplex der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Suhl belagerte, kam es zu einem weiteren Suizid: Während der Belagerung des Gebäudekomplexes durch 3000 Demonstranten erschoss sich ein Mitarbeiter der Stasi.
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