von Transitfahrer » 10. Mai 2019, 12:04
Weiter mit dem 2. Teil
"In der letzten Woche ist aus dem Reaktionsbild der Bevölkerung zu den Volkswahlen zu erkennen, dass neben den weiterhin überwiegend positiven und zustimmenden Meinungsäußerungen kritische Bemerkungen gegenüber noch bestehenden Missständen, Mängeln und Schwächen zunehmen, wobei z. T. Unzufriedenheit und Verärgerung zum Ausdruck gebracht wird. Hauptsächlich werden kommunale oder ungelöste persönliche Probleme angeführt und darauf verwiesen, dass sie sich ungünstig auf die Wahlbeteiligung auswirken könnten. Aus einigen Kreisen wird bekannt, dass gegenwärtig – häufig mit Hinweis auf die bevorstehenden Wahlen – die Anzahl der Eingaben an staatliche Organe ansteigt. Sie betreffen vorrangig ungelöste Wohnungsprobleme, mangelnde Dienst- und Reparaturleistungen sowie Baumaßnahmen, Mängel in der Ersatzteilbereitstellung und Versorgung der Bevölkerung, unzureichende Einkaufsmöglichkeiten, bestehende Schwierigkeiten in der Wasserversorgung, vornehmlich Trinkwasserversorgung (Landbevölkerung), und beim Fortgang des Straßenbaues.
In Einzelfällen wird aus diesen u. a. noch bestehenden Schwierigkeiten sowie persönlichen Problemen (u. a. Nichtgenehmigung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen) abgeleitet und offen angekündigt, der Wahl fernbleiben zu wollen.
Die Anzahl der bisher bekannt gewordenen Hinweise auf potenzielle Nichtwähler übersteigt nach bisher vorliegenden Hinweisen nicht die in Vorbereitung vorangegangener Wahlen verzeichneten Zahlen. Sie setzt sich insbesondere zusammen aus dem vorgenannten Personenkreis sowie aus einer Reihe kirchlicher Amtsträger sowie Angehöriger der illegalen Sekte »Zeugen Jehovas«.
Darüber hinaus zeichnen sich in einigen Bezirken vereinzelt territoriale Schwerpunkte mit vermehrter Ankündigung der Nichtteilnahme an der Wahl ab. Solche Hinweise liegen aus Städten bzw. Gemeinden der Nord- und Südbezirke sowie aus dem Bezirk Leipzig vor, wobei diese Haltungen vorrangig durch Eingaben an staatliche u. a. Organe dokumentiert werden. Bei diesen bisher festgestellten territorialen Schwerpunkten stehen vor allem Probleme im Mittelpunkt, die bereits im Zusammenhang mit der wachsenden Eingabentätigkeit genannt wurden.
In Leipzig z. B. stellen schleppende Sanierung von Altbausubstanz und unzureichende Behebung kleinerer Schäden an Wohngebäuden durch Sofortmaßnahmen einen viele Bürger bewegenden Schwerpunkt dar. (Dort spielt auch das Nichteinhalten von Versprechungen durch Mitarbeiter des Staatsapparates oder Abgeordnete eine nicht zu übersehende Rolle.)
In Leipzig-Land (Wiederitzsch) stehen in der Wahlvorbereitung seit längerer Zeit vorhandene Probleme der Versorgung mit Erzeugnissen des Grundbedarfs im Mittelpunkt der Gespräche (z. B. für ca. 5 000 Einwohner eine Bäckerei/ersatzlose Schließung von Geschäften u. a.).
In einigen anderen territorialen Gebieten mit größeren Industrieobjekten (Bezirke Halle, Magdeburg, Leipzig u. a.) spielen in Vorbereitung auf die Wahlen Diskussionen, Eingaben und Unzufriedenheiten über erhebliche Umweltbelastungen, insbesondere durch Staub und Ruß, infolge nur unzureichender Realisierung festgelegter Umweltschutzmaßnahmen eine Rolle.
Abwertende und negative Meinungsäußerungen unter Bezugnahme auf die Wahlen wurden nur als Einzelerscheinungen bekannt, sind aber in allen Bezirken vorhanden.
Solche Meinungsäußerungen beinhalten hauptsächlich:
– Einen wirklich demokratischen Charakter der Wahlen gebe es nicht; das Wahlergebnis stehe bereits vorher fest.
– Die Bürger würden zur offenen Wahl mangels ausreichender Wahlkabinen »gezwungen«.
– Den ganzen »Wahlrummel« könne man sich sparen; Vorbereitung und Durchführung würden sowieso einen erheblichen Kräfte- und Finanzaufwand erfordern.
– Die »Wahlpropaganda« solle von den bestehenden Mängeln ablenken. Agitation und Inhalt von Wahlversammlungen gingen von Schönfärberei aus und würden nicht die tatsächliche Lage widerspiegeln.
– In den Wahlversammlungen würden der Bevölkerung Versprechungen gemacht, die in der Folgezeit nicht eingehalten werden.
– Das derzeitig bessere Warenangebot sei eine Maßnahme unmittelbar vor den Wahlen, danach sinke das Niveau wieder ab.
In Einzelfällen treten Spekulationen ohne Massenwirksamkeit auf. Danach würden nach den Volkswahlen Preiserhöhungen durchgeführt, und es sei mit Kürzungen der Warenangebotsbreite zu rechnen. Vereinzelt wird anlässlich der Wahlen eine Rentenerhöhung sowie eine Amnestie für Strafgefangene erwartet.
Teilweise skeptisch und abwertend wird in Vorbereitung auf die Wahlen die ökonomische Entwicklung und Stabilität der Wirtschaft der DDR dargestellt, wobei diese Äußerungen zwar in allen Bezirken auftreten, aber keine Massenbasis erreichen. Inhaltlich wird zum Ausdruck gebracht,
– der X. Parteitag habe die ökonomische Leistungskraft der DDR überschätzt, und jetzt werde diese Linie »weitergefahren«;
– die »Auswertungskampagne« des X. Parteitages sei in Vorbereitung auf die Wahlen überspitzt und damit häufig unwirksam;
– aufeinanderfolgende gesellschaftliche Höhepunkte würden bei der Bevölkerung Müdigkeit hervorrufen;
– es fehle an einer wirklichen Initiative der werktätigen Massen, die nur noch durch persönliche Stimulierungen zu erreichen sei, nicht aber durch allgemeine Aufrufe und Verlautbarungen zu Wettbewerben;
– die Verpflichtungsbewegung, drei zusätzliche Tagesproduktionen zu leisten, sei als unreal einzuschätzen und tatsächlich nur für wenige Betriebe realisierbar. Der größte Teil der Betriebe, die sich verpflichtet hätten, würden das Ziel nur durch Planmanipulierungen erreichen;
– in der DDR seien noch zu viele Widersprüche nicht beseitigt, die sich als hemmend bei der Weiterentwicklung der Wirtschaft erweisen würden (angeführt werden u. a. ständige Aufrufe zu Wettbewerben – aber häufig Nichtauslastung der Arbeitszeit durch fehlendes Material, Durchsetzung des Sparsamkeitsprinzips – aber zunehmende kostspielige Staatsbesuche und große Veranstaltungen ohne erkennbaren wirtschaftlichen Nutzeffekt, Betonung der Verbundenheit und des Vertrauensverhältnisses zwischen Volk und Partei- und Staatsführung – aber Beibehaltung von Privilegien für Funktionäre);
– Preispolitik, Warenangebot und Lohngefüge hätten sich zuungunsten der »einfachen« Arbeiter entwickelt. Teilweise werden nach dem X. Parteitag konkretere Festlegungen zur Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen erwartet, welche u. a. berechtigte Veränderungen der Lohn- und Gehaltsstruktur, die Beseitigung der Einkommensunterschiede bei gleicher Arbeitstätigkeit, die Gewährleistung eines stabilen Warenangebots auch in den unteren Preisgruppen, die Beseitigung der Niveauunterschiede in der Versorgung der Hauptstadt Berlin und anderer Großstädte einerseits sowie kleinerer Städte und Gemeinden andererseits einschließen würden;
– in einigen Arbeitskollektiven wird die Erreichung der volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Ziele, wie sie der X. Parteitag und der Wahlaufruf gestellt haben, angezweifelt, wobei zum Ausdruck gebracht wird, dass konsequenter vorgegangen werden müsste gegen Erscheinungen der ungenügenden Auslastung der Arbeitszeit, der Arbeitsbummelei, der Asozialität, des Alkoholgenusses während der Arbeitszeit, dass ein energischer Kampf gegen Planmanipulierungen und Falschmeldungen geführt werden müsse.5
1 Am 14.6.1981 fanden Wahlen zur Volkskammer, den Bezirkstagen und zur Stadtverordnetenversammlung von Ostberlin statt.
2 Der X. Parteitag der SED fand vom 11. bis 16.4.1981 in Berlin statt.
3 Vgl. Berichte O/94a v. 9.3.1981, O/94b v. 30.3.1981, O/96c v. 13.4.1981, O/96d v. 14.4.1981, O/96e v. 15.4.1981, O/96f v. 16.4.1981, O/96h v. 17.4.1981 u. O/96h v. 21.4.1981.
4 Seit 1971 fanden Wahlen zur Volkskammer alle fünf Jahre statt. Gewählt wurden Kandidatenlisten, auf denen einzelne Kandidaten gestrichen oder hinzugefügt werden konnten. Nur wenn alle Kandidaten einzeln gestrichen waren, galt ein abgegebener Wahlschein als Gegenstimme. Das Verhältnis der Fraktionen wurde bereits bei der Kandidatenaufstellung gesichert. Das Wahlsystem sah keine freien Wahlen und in der Praxis auch keine geheimen Wahlen vor. Es war üblich, mittels »Faltens« der Wahlscheine ohne Benutzung einer Wahlkabine zu wählen. In der Regel wies das offizielle Wahlergebnis eine 99%ige (1981: 99,86 % bei 99,21 % Wahlbeteiligung) Zustimmung aus.
5 Diese Forderungen tauchen mehrfach in den »Reaktionen der Bevölkerung« der Berichte O/96b v. 12.4.1981, O/96c v. 13.4.1981, O/96d v. 14.4.1981, O/96e v. 15.4.1981, O/96f v. 16.4.1981, O/96h v. 17.4.1981 u. O/96h v. 21.4.1981 auf."
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.