„Wir sollten Druck auf Arbeiter ausüben“Joachim H. Rudek patroullierte im Juni 1953 als Wachoffizier der Volkspolizei See auf der Warnow.Als Wachoffizier der Volkspolizei See (VP-See) erlebt der heute 78-jährige Joachim H. Rudek die Tage rund um den 17. Juni 1953 — vom Schiff aus im alten Werfthafen in Warnemünde. Bis heute hat sich seine Scham gehalten.
Schicke Uniform, gutes Essen und endlich raus aus dem kleinen Dorf Malchin. Genügend Argumente für Joachim Rudek, 1951 bei den Werbern der Seepolizei zu unterschreiben. „Ich war gerade 17, hatte eben meine Schlosserlehre hinter mich gebracht“, sagt Rudek. „Meine Aussichten? Nicht spektakulär. Vielleicht Arbeit in der Produktion.“ Also leistet er lieber Dienst am Volk. Eine Entscheidung, die Rudek im Juni 1953 das erste Mal in frage stellt.
Der entscheidende Moment: Als wütende Arbeiter der Neptunwerft die Besatzung des patrouillierenden Küstenschiffs (KS) wüst beschimpfen. Mit an Bord des KS 125 auch Maat Rudek, jüngster Wachoffizier der VP-See. „Mit unserer Präsenz sollten wir offenbar Druck auf die Streikenden ausüben“, zieht Rudek erst Monate, Jahre später Fazit. Als sich in Berlin die Fäuste gegen Ulbricht heben, ist Rudek ein unpolitischer Mann. Noch. „Mädchen und Tanzabende, das beschäftigte uns zu der Zeit.“ Rudeks überschaubare Welt vom militärischen Training an den Bordgeschützen vor Peenemünde, Landgängen und ersten Tändeleien in den Gastwirtschaften bekommt Risse, als im Frühjahr 1953 die Verpflegungsrationen reduziert werden.
Die Stimmung ist unruhig, verschlechtert sich enorm, als die Rückfahrkarte für VP-Angehörige gestrichen wird. Vorbei ist es mit den rabattierten Fahrten in die Heimat. „Es traf vor allem diejenigen, die im Norden stationiert waren, aber in Sachsen Familie hatten.“ Der Tod Josef Stalins am 5. März verschärft die Lage.
Druck sei auf ihn und seine Kameraden ausgeübt worden. „Wir mussten uns verpflichten, so lange zu dienen, wie Partei und Staat uns brauchen“, sagt Rudek. Der junge Mann unterschreibt — unter Zwang. „So schlecht ist es mir damit nicht ergangen“, sagt er rückblickend.„Später bin ich als Kommandeur gefahren.“ Rudeks Dienstzeit wird kurz darauf auf fünf Jahre reduziert. Ein Entgegenkommen auf Führungsseite. Ein schales Gefühl bleibt ihm.
Als seine Mannschaft am 17. Juni per Funk den Befehl erhält, in Peenemünde anzulanden, ahnt Rudek nichts von der revolutionären Lage in der Republik. „Unsere Schiffe sollten, anders als üblich, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander einlaufen.“ Unerklärlich für die Truppe. Doch Fragen werden nicht gestellt, auch nicht beantwortet. Verpflegung und Munition sollen geladen werden. Der Landgang ist gestrichen. Entlang der Küste soll eine Bootskette gebildet werden. Rudeks Auftrag: alle auslaufenden Schiffe im Greifswalder Bodden zu kontrollieren. „In einem Schlauchboot mit zwei Matrosen habe ich Papiere der Schiffseigner geprüft.“ Ohne jedes Wissen, welche Papiere eigentlich hätten vorgelegt werden müssen. Rudek schüttelt den Kopf — damals wie heute. Die Besatzung ist verunsichert.
Abgeschieden auf dem Wasser. Radio? Fehlanzeige. Kontaktsperre wird verhängt. Ein Verbot, das die Funker unterlaufen. „Irgendetwas ist in Berlin passiert“, erfahren die Seeleute. Mehr nicht.
Was Rudek erst später einordnen kann: In den Wirren der Juni-Tage legt das Küstenschiff 131 in Warnemünde an. Die Verpflegung ist ausgegangen. Die Mannschaft mischt sich unter Einheimische, geht essen. Ahnungslos über den Ausnahmezustand, auch über das Verbot, an Land zu gehen. Bis Grenzsoldaten auftauchen. Der Streit ist folgenreich: Fäuste fliegen, es kommt zu bewaffneten Drohgebärden. Die Rote Armee greift ein. „Das Boot 131 muss Warnemünde verlassen“, erfährt Rudek. „Und wir waren der Ersatz.“ Das KS 125 wird nach Warnemünde befehligt, patrouilliert im alten Werfthafen. Es ist der 19. Juni. „Wir waren abgeschnitten.“ Ohne Augen, ohne Ohren für die Dinge, die in der Republik vor sich gehen. Selbst der Politoffizier auf dem KS tappt im Dunkeln.
„Die rechte Hand wusste nicht, was die linke macht. Keine Delegation der Stadt, keine Funktionäre, niemand kam, um uns aufzuklären. Wir wurden benutzt“, sagt Rudek. „Mit unserer Präsenz sollten wir offenbar Druck auf die Streikenden der Werft ausüben.“ Die reagieren. Mit Wut, Fassungslosigkeit. Schreie übers Wasser. „Was sollten wir tun?“ Hilflosigkeit. Ein Gefühl, das sich bis heute nicht gelegt hat.
„Ich schäme mich“, flüstert er. Fast versöhnlich — eine Szene Tage später: Junge Mädchen tauchen auf, suchen den Kontakt zu den Seeleuten. „Erst von ihnen haben wir konkret von den Unruhen erfahren.“
Die Waffe ziehen gegen die Rostocker? „Niemals“, sagt er. „Das wäre mit uns nicht zu machen gewesen.“ Seine Kameraden sind Anfang 20, haben ähnliche Biografien. „Erzogen als Jungvolk 1944“, sagt Rudek bitter. „Das prägt.“
Rudek weigert sich, in die Partei einzutreten. Geht nach Berlin. Eckt immer wieder an. Erlebt Repressalien, kehrt 1976 nach Rostock zurück, lehrte an der Hochschule für Seefahrt in Warnemünde.
Scheuklappen lässt er sich nicht mehr aufsetzen. Den Einsatz im Juni — eine schmerzhafte Erinnerung. „Auch das gehört zu meiner Biografie.“http://www.ostsee-zeitung.de/Mecklenbur ... r-ausueben
Schamgefühl, wie es Rudek empfand, kennen Teile der ehemaligen Vopos, die auch gegen andersdenkende Teile des eigenen Volkes als Handlanger der Stasi tätig wurden, bis heute nicht, wie nachlesbar ist.