Stasi Berichte aus Ungarn

Alles zum Thema Geheimdienste und Sicherheit in der DDR und in der BRD

Stasi Berichte aus Ungarn

Beitragvon augenzeuge » 11. Januar 2024, 19:41

Aus dem historisches Archiv der Staatssicherheitsdienste Ungarns

Wie die DDR-Stasi u.a. ihre eigenen Kollegen beschattete

Die DDR-Bürger, die nach Ungarn reisten, standen unter einer sich ständig verschärfenden Beobachtung, da in den Augen der DDR-Führung und der Staatssicherheit praktisch jeder, der seinen Sommerurlaub in einem sozialistischen Land verbrachte, das in der Nachbarschaft eines westlichen Staates lag, auch die Absicht hatte, einen ungesetzlichen Grenzübertritt zu versuchen, also Republikflucht zu begehen.

In der Tat versuchten viele DDR-Staatsbürger, über ein befreundetes sozialistisches Land in einen westlichen Staat zu gelangen, aber natürlich hatten nicht alle Urlauber derartige Pläne. Für solche Versuche bot Ungarn auch aufgrund seiner geografischen Lage ausgezeichnete Möglichkeiten, sodass der beobachtende Blick der Staatssicherheit ganz bis zum Balaton reichte.
Diese Methode bedachte Monika Tantzscher mit dem Begriff „verlängerte Mauer“.

Die Staatssicherheit trat nicht nur gegen diejenigen auf, die sie zur Regimeopposition zählte, sondern beeinflusste auch das Leben der „schweigenden Mehrheit“. Sie drang in alle Bereiche des Alltagslebens ein und strebte nach einer ständigen und umfassenden Beobachtung der Staatsbürger, auch noch zur Zeit der „wolkenlosen“ Sommerurlaube am Balaton. 1989 hatte sich die Staatssicherheit – im Verhältnis zur Einwohnerzahl der damaligen DDR – zum größten Geheimdienst der Welt entwickelt und erzwang auf beispiellose Art und Weise die fast vollständige Überwachung der ostdeutschen Gesellschaft. Mittels der Ofenlegung der Inhalte, die sich hinter der primären
Bedeutung der Dokumente verbergen, zeichnet sich ab, wie das mehrere Jahrzehnte alte Bewusstsein der Präsenz der Staatssicherheitsdienste das Leben der Menschen beeinflusste und welche Auswirkungen es auf das Alltagsleben und die Denkweise der Staatsbürger hatte.

Berücksichtigt man den – bereits erwähnten – Richtungswechsel hinsichtlich des Interessensbereichs der ungarischen Staatssicherheit auf dem Gebiet der Kontrolle des Fremdenverkehrs und liest man die in den 1980er Jahren entstandenen relevanten Dokumente mit Bezug auf die DDR, dann wird spürbar, dass die DDR-Touristen die ungarische Staatssicherheit immer weniger interessierten. Aber auch gegenüber den Personen, die aus der Bundesrepublik einreisten, ließ die frühere Wachsamkeit und Verdächtigung nach. Die ungarische Staatssicherheit wickelte das Verfahren gegen verhaftete DDR-Staatsbürger in zunehmendem Maße nur mehr wohl oder übel, den existierenden zwischenstaatlichen Abkommen Genüge leistend, nach dem üblichen Geschäftsgang ab, und zwar so, dass man die Angelegenheit möglichst schnell erledigte und die entsprechende Person dem Stasirepräsentanten in Ungarn übergab.

All diese Prozesse zeichnen sich sehr gut beim Studium des Wortlauts und des Sprachgebrauchs der Dokumente ab: Die Ermattung der Aufmerksamkeit der ungarischen Staatssicherheit und die Verlagerung ihres Interesses werden greifbar. Bei der Tätigkeit der DDR-Stasi hingegen war die Tendenz – wie bereits gezeigt – entgegengesetzt: In den Jahren nach der Errichtung der Berliner Mauer begleitete diejenigen, die nach Ungarn oder sonst wohin reisten, eine sehr starke Aufmerksamkeit. Diese verringerte sich – auch zusammen mit dem Anstieg der Zahl der Ausreisenden – nur vorübergehend.

Mit dem Nahen der 1980er Jahre verstärkte sich die besondere Überwachung erneut. Die Stasi war bis zum Ende des Jahrzehnts unermüdlich und das Jahr 1989 bzw. der – auch vom Gesichtspunkt der Staatssicherheit – „heiße Sommer“ bedeutete gleichsam den Höhepunkt all dessen. Demgegenüber passten die Angelegenheiten der DDR-Bürger 1989 kaum mehr in den Interessenbereich und in die Kapazitäten der ungarischen Staatssicherheit hinein. Die Ostdeutschen trafen zwar in immer größerer Zahl in Ungarn ein, inmitten der Verdichtung der ungarischen und internationalen Ereignisse genossen sie aber weder bei der Presse, noch in der öffentlichen Meinung, noch seitens der politischen Akteure herausragende Aufmerksamkeit.

Ende der 1980er Jahre gab es am Ufer des Balatons auffällig viele Kontrollen, bei denen es die Aufgabe der Stasi war, einen zum Innenministerium der DDR, zur Volksarmee oder gerade zum Ministerium für Staatssicherheit gehörenden Mitarbeiter – also gleichsam einen Kollegen – zu kontrollieren und seine westdeutschen Kontakte auszuspionieren.

Natürlich schöpften die überwachten Kollegen Verdacht: Sie verkehren regelrecht mit niemand anderem, als mit ihren westdeutschen Freunden, nahmen die Nummernschilder von ihren Autos herunter, parkten mit ihnen in den Garagen der Hinterhöfe oder schoben sie in dichte Büsche und gingen regelmäßig Streife um ihre eigenen Zelte. Geschickte inoffizielle Mitarbeiter verschafften sich natürlich auch in diesen Fällen die gewünschten Informationen: Sie krochen in Gärten und zwischen Büsche, wobei sie auch die Gefahr einer Dekonspiration, also einer Enttarnung, in Kauf nahmen.

Aus dem Blickwinkel der Staatssicherheit wurde es immer wichtiger, die Gesamtstärke der Organisation zu bewahren. Wenn sich bereits ihre eigenen Leute mit „Westlern“ befreundeten, wenn sie Informationen ausplauderten und wenn auch sie vielleicht versuchten, die Grenze nach Österreich zu überschreiten, dann konnte die tatsächliche Lage kaum mehr verhüllt werden, nämlich die Tatsache, dass – neben den wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten – in der DDR die innere Fäulnis auch in den Organen der Macht eingesetzt hatte. ..............Ende Teil 1

AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84865
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Re: Stasi Berichte aus Ungarn

Beitragvon augenzeuge » 11. Januar 2024, 19:41

Teil 2

Liest man die Berichte über die Sommerferien, dann wirft sich die Frage auf, wie wohl der Sommerurlaub derjenigen DDR-Staatsbürger, die sich als inoffizielle Mitarbeiter oder als Helfer an der Stasi-Arbeit am Balaton im Sommer oder gar in der letzten Saison beteiligten, verlief. Wie ertrugen sie es, dass sie auch während ihrer Sommerferien an bestimmte Orte gehen mussten und die Stasi selbst ihre Quartiere bestimmte? Und wie ertrugen sie es, dass ihre Tagesordnung und ihre Programme – ohne ihr Zutun – von jenen Sommerurlaubern festgelegt wurden, über die sie Informationen sammeln mussten? Wie kann man sich ausruhen und Sommerurlaub machen, wenn man im Schatten scheinbarer Entspannung in Wirklichkeit jemanden den gesamten Tag lang aufmerksam beobachten und ihm ohne Aufsehen zu erregen überall hin folgen muss? Natürlich ging das auch mit einem kleinen Vorteil einher: In der Regel trug die Stasi die Hauptkosten des Sommerurlaubs. Ganz klar konnte man während eines solchen Urlaubs natürlich nicht einfach nur so Freundschaften schließen und vor allem keine Westkontakte knüpfen. Die einzige Kontaktmöglichkeit bildete die beobachtete Zielperson und ihre Familie.

Die IM-Berichte über die Balaton-Urlaube sind noch nichtssagender, als die Durchschnittsberichte, denn die Mehrzahl der Menschen macht – zwischen den üblichen Strandbesuchen – bestenfalls manchmal einen Auslug und isst in einer Csárda zu Abend, ihre Zeit verbringt sie aber praktisch mit Nichtstun. Dementsprechend handeln die meisten Balaton-Berichte in der Tat von Nichts. [flash]

Aus völlig belanglosen Informationen werden dann von den inoffiziellen und hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS zusammenfassende Berichte und weitere Arbeitspläne verfasst, so, wie wir es aus den folgenden Beispielen ersehen können:

„Bericht. Bauleiter.
[…]
Um 10.09 Uhr geben der Bauleiter und sein Sohn die leeren Flaschen im
Mini-ABC ab und kommen mit leerem Beutel zurück.
Um 10.20 Uhr steigen der „Audi”-Fahrer, der Bauleiter und dessen Sohn
in den „Audi” und fahren in Richtung Balatonföldvar Zentrum. 10.25 Uhr
folgen dem der „Peugeot”mit dem dazugehörigen Paar. Beide Personen-
gruppen hatten keine Beutel und Taschen bei sich, auch keine Badesachen, so dass mit keiner längeren Abwesenheit zu rechnen ist. […]
gez. „Marc Aurelius”

„Information zu…..
Am Montag, 1.8.1988, wurde ab 8.00 Uhr die Kontrolle des Objektes auf
dem Zeltplatz in Fonyod-Belatelep/VR Ungarn fortgeführt.[…]
Gegen 8.30 Uhr nahmen die drei Personen, Objekt und Lebensgefährtin
und das Kind, ihr Frühstück vor dem „Camptourist” ein. Gegen 9.30 Uhr war das Frühstück beendet und das Kind holte erst Wasser und spielte damit mit anderen Kindern am Hauptweg. […]
gez. „Löwe” 49

„Ergänzungsinformation zu den Bürgern der DDR mit dem Pkw „Lada” VL …
Am 19.7. nachmittags waren die männlichen Personen der o. a. DDR- und der zugehörigen bekannten BRD-Familie mit Surfen und anderen wassersportlichen Tätigkeiten befasst.
Die weiblichen Personen waren mit Tätigkeiten um und im Objekt befasst und sonnten sich. Durch meine Gattin erfolgte ein allgemeines Gespräch mit dem weiblichen Teil der DDR-Familie (keine besonderen Erkenntnisse). […]
gez. „Peter Schäfer”

„Information
über Kontrollauftrag „Dorlastan”
Am 19.7.1987 wurde im Zeitraum von 18.00 bis 19.00 Uhr das Fahrzeug NN
…. genutzt.
Dabei wurde die Bungalowsiedlung Vadvirag sowie die Grundstücke von
der Bungalowsiedlung aus in Richtung Boglarlelle (bis ca. zum Zentrum des Ortes) entlang der Uferstraße neben der Eisenbahnlinie überprüft. Das Ergebnis war negativ. […]
gez. IM”

Die Akten, die im Zuge der Zusammenarbeit der beiden Staatssicherheitsdienste entstanden, machen die das Alltagsleben der Menschen beeinflussende Diktatur und das von der Macht geschaffene Feindbild greifbar und sie lassen die Funktionsweise der Staatssicherheitsdienste, die sich selbst Arbeit und Aufgaben schufen und zu einem bürokratischen Amtsmonster wurden, spürbar werden. Es ist ein außerordentlich interessanter Prozess, wie das „aktive Nichtstun“ des Sommerurlaubs, das der Regenerierung und Entspannung dienen sollte, in den Augen der DDR-Macht verdächtig und zu einer Vorbereitung illegaler Aktivitäten wurde. Die Paranoia, die die Tätigkeit der Stasi beherrschte bzw. lenkte, reichte ganz bis zum Balaton. Jede alltägliche, während des Sommerurlaubs normale Aktivität konnte verdächtig werden. Dementsprechend kriminalisierten die angesetzten Beauftragten der DDR-Staatssicherheit auch den nichtssagenden Zeitvertreib, und zwar dadurch, dass sie versuchten, auch in völlig übliche, alltägliche Beschäftigungen der Sommerurlauber konspirative Tätigkeiten hineinzuinterpretieren. Gemäß ihrer Denkweise war der
Sachverhalt, dass sich an einem schläfrigen Sommernachmittag drei Männer hinter zugezogenen Vorhängen in einem Campingwagen aufhalten, ein Beweis dafür, dass sie gerade Spionageinformationen austauschen oder weitergeben.

Wenn zwei Mädchen aus der DDR in einer Diskothek in Tihany Bekanntschaften machen, dann machen sie dies „selbstverständlich“ nur, so das Denken der Stasi, weil sie mithilfe neuer Bekannter illegal über die Grenze nach Österreich gelangen wollen. Die Tatsache, dass Menschen im Urlaub am Nachmittag einfach nur schlafen und Mädchen einfach nur Bekanntschaften machen wollen oder sich von westdeutschen Jungs ein wenig einladen und verwöhnen lassen wollen, weil sie selbst nicht genug Geld für den gesamten Sommerurlaub hatten, war für die angesetzten Spitzel völlig unvorstellbar.

Jede Freundschaft, jede Unmittelbarkeit und jedes Befreitsein zog einen Verdacht nach sich: Geschieht hier ein Informationsaustausch? Werden geheime Treffen vereinbart? Handelt es sich um die Mitglieder einer Menschenhändlerbande, die eine Flucht planen? Wird feindliche Propaganda verbreitet? Oder gibt es irgendetwas zu verbergen oder eine dunkle Absicht? Gerade das ist das Raffinierteste an den IM-Berichten über die Balaton-Urlaube, dass die Situation ausgenutzt wird, dass sich die DDR-Bürger auch deshalb so wohl in Ungarn fühlen können, weil ihnen in dem für sie westlich und freiheitlich erscheinenden Land nicht in den Sinn kommt, das Hand und Auge der Stasi selbst bis hierher reichen. Sie waren befreit, naiv, für Freundschaften aufgeschlossen und offen, so, wie die Menschen im Urlaub, beim Verbringen ihrer Freizeit, befreit sind, so, wie man auf Ungarisch sagt: Wir sind im Urlaub wir sind also frei .

Gerade diese befreiten Augenblicke, diese Verdachtslosigkeit und dieses frische Erlebnis der Befreiung aus dem grauen, von der Stasi umsponnenen Alltag werden belauert und durch paranoide Hirngespinste beschmutzt. Das Familien- und Freundesidyll, die entstehenden Liebesverhältnisse, die Augenblicke geplanter Hochzeiten, das Panschen im Wasser, Freude, Friede und Ruhe werden bespitzelt – und all das wird mit den Eintragungen in den kleinen Notizbüchern geraubt. (György Gyarmati – Krisztina Slachta)

AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84865
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen


Zurück zu Geheimdienste und Sicherheit

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste