Hirsebrei für den Generaldirektor

Alles zum Thema Geheimdienste und Sicherheit in der DDR und in der BRD

Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Interessierter » 20. April 2020, 09:24



Der Leserbriefschreiber wollte es dem Chefredakteur der Suhler Tageszeitung Freies Wort leicht machen. Mit blauem Kugelschreiber markierte er am Rand des Textes den Abschnitt, der ihm bei der Lektüre der SED-Parteizeitung aufgestoßen war, faltete die Zeitungsseite sorgfältig zusammen und legte sie seinem wutentbrannten Schreiben bei.

"Ich könnte noch viele solcher Geschichten erzählen", hatte der Journalist Landolf Scherzer zum Abschluss seiner mehrteiligen Serie "Jahre und Jahrhunderte" im Freien Wort geschrieben. Mit seinen Schilderungen über Leben und Arbeiten der Menschen in der südthüringischen Stadt Schmalkalden hatte Scherzer – getreu der von der SED vorgegebenen Perspektive – darüber berichtet, welche Erfolge des Sozialismus in der Region bereits zu verzeichnen waren und welche Aufgaben es noch zu bewältigen gelte. Auch von Hans Kerst hätte er erzählen können, so Scherzer, "dem Generaldirektor, der früh um halb fünf an der Arbeit ist und abends um neun seine Frau anruft, sie solle die Hirse warmmachen, in einer halben Stunde sei er zu Hause".

Fahndung nach Kritikern mit allen Mitteln
Aber der User karnak schrieb doch, dass man problemlos Kritik äußern konnte ( ohne den Westen einzuschalten )
[laugh] [flash]

Eine Erfassung von derartigen Materialien gehörte zu den Kernaufgaben der HA XX/2 und der entsprechenden Diensteinheiten in den BV und KD. Mit vielfältigen Methoden untersuchte die Hauptabteilung, die für die "Bearbeitung von 'Schwer- und Brennpunkten der Hetze'" zuständig war, solche Materialien. Sogar der Speichel unter der Briefmarke konnte dabei in den Blick des MfS geraten. So forderte die Abteilung XX der BV Suhl 1988 eine "Geschlechts- und Blutgruppenbestimmung" von ihren Berliner Kollegen an. Ein Zeitungsleser hatte einen Artikel, in dem der rumänische Staatschef Nicolae Ceaucescu überschwänglich gelobt worden war, mit den Worten kommentiert: "nie zuvor ging es den Rumänen so schlecht wie heute! Wir sind nicht blöd" – und an die Suhler SED-Bezirksleitung gesandt. Sowohl an den "Klebeflächen der Verschlußklappe" des Briefumschlages als auch an der 20-Pfennig-Briefmarke hatten die MfS-Spezialisten "Speichel einer männlichen Person" ermitteln können.


Im Fall des "kritischen Zeitungslesers" aus dem Jahr 1971 unternahm das MfS solche Ermittlungen offenbar nicht. Möglicherweise fehlten zu diesem Zeitpunkt auch noch die technischen Voraussetzungen, um eine derartige Analyse durchzuführen. Immerhin aber erfasste das MfS die "Tatschrift" und hielt sie so für spätere Ermittlungen – etwa beim Auftauchen weiterer Briefe – verfügbar.

Das MfS dürfte besonders die Kritik am System der Presselenkung in der DDR, die den Hintergrund des Leserbriefes bildete, als potenzielle Gefahr – eben als "staatsfeindliche Hetze" – betrachtet haben. Doch den Leserbriefschreiber scheint nicht nur seine Kritik am Mediensystem motiviert zu haben. Zugleich sah er offenbar ein großes Maß an Ungerechtigkeit in der sozialistischen Gesellschaft: Einen bescheiden lebenden Generaldirektor mit hohem Gehalt, der Hirse aß, konnte er sich jedenfalls nicht vorstellen. Ob dieses Empfinden durch persönliche Erfahrungen gespeist war, die ihn dann auch zum Schreiben des Briefes veranlassten, oder ob es "nur" ein allgemeines Gefühl war – Antworten darauf liefert der Brief nicht. Immerhin widersprach die Wahrnehmung erheblicher sozialer Unterschiede der von der Staatsführung proklamierten prinzipiellen Gleichheit der Menschen. Kritik daran rührte an den Grundfesten des Herrschaftssystems.

https://www.bstu.de/informationen-zur-s ... ldirektor/
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon augenzeuge » 20. April 2020, 10:05

Das kurze Video ist sehr aussagekräftig. Womit sich das MfS alles beschäftigt hat....unglaublich, wovor man schon Angst hatte.

Ganz toll: Im Rahmen der normalen Postüberwachung fand das MfS diesen Brief.... [flash]

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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon karnak » 20. April 2020, 10:19

Interessierter hat geschrieben:Aber der User karnak schrieb doch, dass man problemlos Kritik äußern konnte ( ohne den Westen einzuschalten )[/color] [laugh] [flash]
[b]

Konnte man auch wenn man nicht als anonymer Schreiberling sich als Stänkerer verdächtig gemacht hat wie in dem Fall. Ein schmierlappiges Verhalten, dass gerade wieder in Mode zu kommen scheint.
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon augenzeuge » 20. April 2020, 10:38

wenn man nicht als anonymer Schreiberling sich als Stänkerer verdächtig gemacht


Aha, anonym ist fast verdächtig. [grin] Ok, sie wollten ja alles wissen.

Ich glaube, der wusste genau, warum er anonym bleiben wollte.

Was ich nicht verstehe, was genau von dem, was er gesagt hat, war eigentlich schlimm? Er hat doch relativ nett auf eine Unmöglichkeit hingewiesen. [denken]

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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Interessierter » 20. April 2020, 10:42

@ karnak: Die Geschichte mit dem Teufel und seiner Großmutter ist sicher auch dir bekannt. Allerdings hätte ich von einem ehemaligen Hauptmann der Stasi - wenn schon - dann eine intelligentere Ausrede erwartet.... [shocked]
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon karnak » 20. April 2020, 12:12

augenzeuge hat geschrieben:
wenn man nicht als anonymer Schreiberling sich als Stänkerer verdächtig gemacht


Aha, anonym ist fast verdächtig. [grin] Ok, sie wollten ja alles wissen.

Ich glaube, der wusste genau, warum er anonym bleiben wollte.

Was ich nicht verstehe, was genau von dem, was er gesagt hat, war eigentlich schlimm? Er hat doch relativ nett auf eine Unmöglichkeit hingewiesen. [denken]

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Zu der Zeit und in diesem System galt ein ohne Gesicht zu zeigen als verdächtig, man traute so einem wohl nicht über den Weg. Ich will das gar nicht gutheißen obwohl mir sowas auch nicht sonderlich sympathisch ist, auch heute ist mir ein " hinten rum "nicht sonderlich nahe. Aber es ging nur darum, dass die Aufklärung wer nun hinter der anonymen Meinungsäußerung steckt nicht unbedingt ein Beweis dafür ist, dass man sich nicht zu einem Missstand äußern dürfte und vor allem nicht traute weil man befürchten musste in den Bau zu wandern.
Und Ausreden habe ich nicht nötig, bin aber bereit Begriffsstutzigen oder ideologisch bedingten Beratungsresistenten noch mal nähere Erläuterungen anzubieten
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon augenzeuge » 20. April 2020, 12:37

Ok, ist klar. Was passierte denn nun mit diesem Opfer? Die Stasi hat ihn ja wohl nach zig tausend Schriftproben gegriffen.....

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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon karnak » 20. April 2020, 12:43

[flash] Ich kann Dir das nicht sagen und bis man das nicht weiß ist der " Titel " Opfer reichlich hoch angesetzt. [hallo]
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Volker Zottmann » 20. April 2020, 13:37

Bis zu einem gewissen Grade hat ja Karnak recht, dass Kritik erlaubt war. [laugh]
Das beschrieb ich ja, hoffte ich zumindest, in meiner Anekdote zu meinem Chromatkauf:

Hätte ich den Rat des Kreises 1979 einfach angeschrieben und nur gemosert, dass es keine Fernseher gibt und dass man tagelang anstehen muss, um mal dran zu sein, wäre der Schrieb garantiert weitergereicht worden. Eben zu all den Karnaks im Kreis Quedlinburg.
So, aber bat ich statt dessen um Hilfe, dass man bitte mit einer Warteliste das Sinnlosanstehen vermeiden könnte. Man möge mich bitte ohne jede Bevorzugung draufsetzen auf die "immaginäre" Liste... Ich habe denen also nur verklausuliert genauso geschrieben, dass es mit den Versorgungsmängeln zum Himmel stinkt.

Doch jetzt waren logisch die Roten beim Rat des Kreises in Zugzwang. Also kam eine "begründete" Bevorzugung zum Einsatz. Und mein Technischer Direktor hatte auch noch das Loblied auf mich per Anweisung anzustimmen....
Es war eben schön, mit dem Kollegen und Freund am gleichen Mittagstisch zu sitzen und schon zu wissen, dass der eigene Plan aufging.

Ergo:
Man konnte eben zu keiner Zeit wirklich frei und ungezwungen sagen was man dachte. Es bestand immer die Gefahr, dass die roten Barone einem jedes Wort falsch auslegten und sich dann die Karnaks des Kreises Quedlinburg um einen liebevoll gekümmert hätten.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon augenzeuge » 20. April 2020, 13:53

Natürlich war Kritik erlaubt. Es war auch erlaubt, einen Ausreiseantrag zu stellen.... [blush]

Man wusste nie, was danach kommt. Denn das hing von den Leuten ab, welche vor Ort Macht hatten. Letztlich konntest du gegen die nichts machen.

Wer einmal eine Beurteilung vom Betrieb brauchte, weil er ner Einladung auf Westreise folgen wollte, wunderte sich nur, was da alles zur Sprache kam.

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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon karnak » 20. April 2020, 14:03

[flash] Das sind nun mal Eigenschaften einer Diktatur, meistens " lästig " aber wenn es mal nicht so läuft wie es einem in dem Kram passt, ob nun bei der Flüchtlingswelle oder einer Pandemie sehnt man sich irgendwie nach der " Zucht und Ordnung " und dem endlich mal richtig durchgreifen. Das ist das Kreuz mit der Spezies Mensch. [flash]
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon zonenhasser » 20. April 2020, 17:33

augenzeuge hat geschrieben: Es war auch erlaubt, einen Ausreiseantrag zu stellen.... [blush]
Man wusste nie, was danach kommt. Denn das hing von den Leuten ab, welche vor Ort Macht hatten. Letztlich konntest du gegen die nichts machen.


Die arbeitsrechtlichen Konsequenzen in der DDR bei Stellung eines Ausreiseantrages
...
Es scheint bewiesen, dass Personen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten und denen deshalb gekündigt wurde, mit einer Kündigungsschutzklage von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatten.

Maßgebend waren Anleitungstexte aus den Jahren 1977 und 1983, die "Orientierungen des Obersten Gerichts, des Generalstaatsanwalts, des Bundesvorstandes des FDGB und des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne zur einheitlichen Behandlung arbeitsrechtlicher Probleme, die sich bei Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen beziehungsweise bei Antragstellung auf Wohnsitzveränderung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin ergeben können."Die Texte forderten in den Fällen von Kündigungsschutzklagen Ausreisewilliger, denen nach Stellung eines Ausreiseantrages gekündigt worden war, zur bewussten Verletzung zwingender Vorschriften des Arbeits- und Zivilprozessrechts der DDR auf. Es waren schriftlich festgelegte Anweisungen an die Arbeitsrichter der unteren Instanzen der DDR-Gerichte, die ihnen auf Fachrichtertagungen oder Dienstbesprechungen vermittelt wurden. Danach war unabhängig von der Qualifikation eines Werktätigen das bloße Stellen eines Ausreiseantrages als Kündigungsgrund im Sinne des Arbeitsrechts der DDR anzuerkennen. Jede Kündigungsschutzklage war durchweg ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss abzuweisen. Der tatsächliche Grund der Kündigung war ausdrücklich zu verschweigen.
...
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Kumpel » 20. April 2020, 17:37

karnak hat geschrieben:Zu der Zeit und in diesem System galt ein ohne Gesicht zu zeigen als verdächtig, man traute so einem wohl nicht über den Weg.


Ach so , und wenn man mit seiner Kritik Gesicht gezeigt hat war alles okay und einer sachlichen Diskussion stand nichts mehr im Weg?
Ich fürchte der Hang zum Anonymisieren der eigenen Meinung in der DDR hat man nathlos aus der NS Zeit übernommen.
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon zonenhasser » 20. April 2020, 17:50

karnak hat geschrieben:Zu der Zeit und in diesem System galt ein ohne Gesicht zu zeigen als verdächtig, man traute so einem wohl nicht über den Weg.


Wie will man einem nicht über den Weg trauen, dessen Gesicht man nicht kennt?
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Kumpel » 20. April 2020, 17:53

zonenhasser hat geschrieben:
karnak hat geschrieben:Zu der Zeit und in diesem System galt ein ohne Gesicht zu zeigen als verdächtig, man traute so einem wohl nicht über den Weg.


Wie will man einem nicht über den Weg trauen, dessen Gesicht man nicht kennt?


Tschekistisches Misstrauen.
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Re: Hirsebrei für den Generaldirektor

Beitragvon Volker Zottmann » 20. April 2020, 18:51

karnak hat geschrieben:
Zu der Zeit und in diesem System galt ein ohne Gesicht zu zeigen als verdächtig, man traute so einem wohl nicht über den Weg.
[flash]


Mit deutlichen Worten kann ich also behaupten, dass ihr oft nur einen Schatten hattet! [laugh]

Gruß Volker
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