Begegnung mit Opfer des Oldenburger Kirchenspions„Ich hatte solch eine Stinkwut!“, sagt Ulrich Singer über den vermeintlichen Freund, der ihn ausspioniert hat. Hier erzählt er, welche Folgen der Verrat für sein Leben hatte. Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Oldenburg /Dresden Er schläft noch, als die Männer in das Acht-Bett-Zimmer platzen; es ist noch nicht einmal Sieben. „Kommen Sie bitte mit“, sagen sie zu ihm, „zur Klärung eines Sachverhalts.“
„Darf ich mich waschen und anziehen?“, fragt er.
„Ja, aber schnell“, antworten die Männer.
Auf dem Flur stehen weitere Männer, sie besetzen die Ausgänge. Draußen wartet ein Wartburg, die Männer fahren ihn zur Kreisdienststelle der Stasi in Jena. Sie bringen ihn in den Keller. Er muss seinen Gürtel abgeben und seine Schnürsenkel. Er muss sich auf einen Schemel setzen, die Hände unter die Oberschenkel. Das Verhör beginnt. Es wird 14 Stunden dauern.
Es ist der 9. März 1966, Ulrich Singer ist 20 Jahre alt.
Wütende StudentenWas ist ein schwerer Fall?
Im Oktober 1993 verhandelte das Oberlandesgericht Celle den Fall eines DDR-Spions: Vor Gericht stand Herr S. aus Oldenburg, 49 Jahre alt, ein ehemaliger Studienkollege von Ulrich Singer. S. war 1966 in den Westen gekommen, mehr als 23 Jahre lang lieferte er als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) Informationen an die Stasi. Seine Berichte füllten sechs Aktenordner. Viele davon betrafen die Oldenburgische Landeskirche, bei der S. 17 Jahre lang angestellt war.
Das Gericht befand: Ein „schwerer Fall“ sei das nicht. S. habe keine „besonders herausgehobene Bedeutung“ für die Stasi gehabt; ein „tatsächlicher Schadenseintritt für die Bundesrepublik“ sei nicht festzustellen.
Die Richter verurteilten S. zu einer Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Außerdem musste er eine Geldstrafe in Höhe von 10 000 Euro zahlen, die Summe entsprach seinem Agentenlohn. Strafmildernd berücksichtigte das Gericht, dass der Angeklagte „als Folge der Tat“ seinen Job bei der Kirche verloren hatte.
Ein schwerer Fall – in der DDR sah der so aus: Fünf Studenten, fünf Freunde, sitzen im Oktober 1965 schlecht gelaunt in der Dorfbücherei von Hohenschönberg, Mecklenburg-Vorpommern. Sie haben den ganzen Tag auf dem Kartoffelacker gearbeitet, der Ernteeinsatz ist Pflicht für Studenten in DDR. Es ist kalt, ein Kaminofen bollert hilflos.
Die Studenten trinken Alkohol. Im Schwarzweiß-Fernseher läuft Westfernsehen. Draußen liegt die Deutsche Bucht, die Bundesrepublik scheint zum Greifen nah. Einer brummt: „Wir sitzen hier in der Scheiße, und da drüben...?“
In den Bücherregalen der Dorfbücherei stehen Klassiker der marxistisch-leninistischen Literatur. Ein Buch landet im Kaminofen: Stalin. Noch eines: Dserschinski.
Die Studenten kleben eine Briefmarke mit dem Bild des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht an die Tür. Ein Wettspucken beginnt.
„Harmlos war das“, sagt Ulrich Singer heute, „wir waren jung.“
Aber dann saß er plötzlich im Stasi-Keller.Weiter geht es hier:
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