Wie notwendig die Aufarbeitung ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Eine Viertelmillion Menschen arbeiteten hauptamtlich für die Staatssicherheit, 91.000 noch im Oktober 1989, Menschen, die bei ihrem Berufsantritt einen lebenslangen Eid auf die Stasi ablegen mussten. Mindestens 600.000 waren in den vier Jahrzehnten der DDR zusätzlich als Inoffizielle Mitarbeiter registriert. Die meisten von ihnen waren Männer – und Väter. Einher ging damit, wie Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, sagte, eine "Reproduktion des Apparats in der Familie", die in der Historie beispiellos sei.
In den Berichten der dreizehn Kinder, die in Hoffmanns Buch zu Wort kommen, offenbart sich nicht nur die perfide Akribie, mit der der MfS jede Bewegung seiner Angestellten überwachte. Sie zeigen auch den Druck, der auf den Familien lastete und der Verpflichtung geschuldet war, sich und seine Angehörigen "auf Linie" zu halten. Hoffmann entwirft ein Bild jenseits festgelegter Typologien, wiewohl mit wiederkehrenden Motiven.
Lieder werden vom Vater bewilligt
Da ist Frank Dohrmann, dessen Vater in der Abteilung Grenzkontrolle und Tourismus am Flughafen Berlin-Schönefeld die Pässe der Ein- und Ausreisenden kontrolliert und auch zu Hause ein klares Regiment verfolgt. Jedes Lied, das gehört wird, muss zuvor vom Vater bewilligt, jede Einkaufsliste der Mutter vorgelegt werden, dazwischen Frank, der an der kühlen Beherrschtheit der Eltern fast zerbricht. ( Scheint so, als hätte man extra für den karnak über den Vater von Frank Dohrmann berichtet )
Da ist Martin Kramer, dessen Vater in der Spionageabwehr schnell aufsteigt und der dem Sohn, der ausgerechnet in Russisch schlechte Noten nach Hause bringt, brüllend die Hefte auf den Tisch knallt. Einige Väter sind aufstrebende MfS-Funktionäre mit mustergültigem Lebenslauf, andere Mitläufer, denen die Eintrittskarten für den Vergnügungspark Plänterwald wichtiger sind als das Parteiabzeichen.
Der Vater als Antiheld: Wie sehr der Gesichtsverlust das Leben der Kinder bis heute prägt, zeigte das Aufeinandertreffen von Thomas Raufeisen und Edine Gade, die Hoffmann in ihrem Buch ebenfalls porträtiert und deren Lebensläufe auf abstruse Art miteinander verwoben sind. Raufeisen wuchs in Hannover auf, wo sein Vater für das MfS den Touristikkonzern Preussag ausspionierte. Als ein Oberleutnant des MfS – Werner Stiller, Edine Gades Vater – 1979 in die BRD überlief und Teile des DDR-Spionagenetzes enttarnte, drohte auch ihm die Verhaftung.
Zwei Jahre in Bautzen II
Das MfS beorderte seinen Agenten in die DDR; dort erfuhren die Söhne vom Doppelleben des Vaters, der innerhalb von Sekunden, wie Raufeisen sagte, ein Fremder wurde. Die Familie, unzufrieden mit der DDR, plante ihre Flucht, flog auf, wurde verhaftet. Thomas Raufeisen verbrachte zwei Jahre in der Haftanstalt Bautzen II.
Edina Gade indes machte sich nach der Wende auf die Suche nach dem verlorenen Vater. Der hatte in der Zwischenzeit auf dem Gardasee Surfen gelernt, in Tokio und Paris gelebt und sich in Frankfurt am Main ein luxuriöses Leben aufgebaut. Den Kontakt habe sie mittlerweile abgebrochen, sagte Gade. Nachfrage aus dem Publikum: "Weil er zu lange weg war?" "Nein", sagte Gader, "weil er doch mein Land verraten hatte."
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