Mit der Stasi Katz und Maus gespielt

Alles zum Thema Geheimdienste und Sicherheit in der DDR und in der BRD

Mit der Stasi Katz und Maus gespielt

Beitragvon pentium » 2. März 2025, 16:42

Karl-Marx-Stadt, August 1981. Siegfried Gehlert kocht. Er ist ein kleiner, bissiger Mann aus dem Erzgebirge, und offenbar auch anpassungsfähig. 1943 tritt er als junger Kerl in die NSDAP ein, nach seiner Rückkehr aus dem Krieg dann sofort in die SED. Jetzt ist Gehlert schon eine halbe Ewigkeit Chef der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der DDR-Geheimpolizei. Dem Generalmajor steht in diesen Tagen das Wasser bis zum Hals. Am 1. August 1981 sitzt er mit seinen wichtigsten Leuten im großen Beratungsraum auf dem Kaßberg, wo sich die MfS-Verwaltung befindet, an einem Tisch, die Stimmung ist gereizt. Seit Monaten halten „konterrevolutionäre Elemente“ die Stasi auf Trab, verteilen in Karl-Marx-Stadt und Umgebung heimlich „staatsfeindliche Hetzschriften“, unterzeichnet mit „Gruppe 17. Juni 1953“. Das Datum steht für den Volksaufstand in der DDR. Das macht den Fall, an den sich die Stasi-Offiziere seit geraumer Zeit die Zähne ausbeißen, so brisant. Die Geheimpolizei befürchtet den Beginn ähnlicher Ereignisse wie damals in der ganzen Republik. Doch von den Tätern keine Spur. Das übergeordnete Ministerium in Berlin will schnellstmöglich Resultate sehen. Siegfried Gehlert delegiert den Druck, der auf ihm lastet, nach unten. „Ich weise mit allem Nachdruck daraufhin, dass sich der Genosse Minister persönlich für diesen Operativen Vorgang interessiert und gefordert hat, die Täter unbedingt zu überführen“, raunzt er die Genossen an. Die wissen genau, was das bedeutet. Der als jähzornig geltende Minister – sein Name lautet Erich Mielke – kann bei unbefriedigenden Resultaten ungemütlich werden.

Karl-Marx-Stadt, Oktober 1980. Der 19. ist ein verregneter Sonntag. Die Geschichte von Enrico Seewald und Rocco Schettler, zwei 17-jährigen Lehrlingen aus Adorf im Erzgebirge, beginnt. Am frühen Abend schwingen sich die beiden Lehrlinge auf eine rote S 50, vorn Enrico Seewald, hinten Rocco Schettler. Der trägt einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sich ein paar Flugblätter, ein Glas mit Kleister und ein Farbroller befinden. Irgendwo in Stollberg fährt Seewald falsch in eine Einbahnstraße, die Volkspolizei stoppt das Moped. Den beiden rutscht das Herz in die Hose. Doch sie müssen nur ein Ordnungsgeld in Höhe von fünf Mark bezahlen. Dann dürfen sie weiterfahren. Irgendwo am Stadtrand halten sie, beginnen mit ihrer Aktion. Sie kleben die Flugblätter – in Stollberg und anderen Orten – an Bauwagen, Lichtmasten, Anschlagtafeln, Aschekübel und Windschutzscheiben geparkter Autos.

Die Flugblätter haben die beiden Jungen mit einer Schreibmaschine beschrieben, die Seiten aufwendig im Durchschlagverfahren vervielfältigt. Enrico Seewald und Rocco Schettler fordern auf ihnen Meinungsfreiheit und das Ende des Unterrichtsfaches Sozialistische Wehrerziehung an den Schulen. Jedes der Flugblätter ist unterzeichnet mit: „Gruppe 17. Juni 1953“.

Bis zum Sommer 1981 kleben die beiden auch in Hohenstein-Ernstthal, Zschopau und Flöha solche Blätter an verschiedene Stellen, oder sie werfen sie wie in der Nacht vom 26. zum 27. Juni 1981 im Wohngebiet an der Flemmingstraße in Karl-Marx-Stadt in die Hausbriefkästen. Die Stasi tappt im Dunkeln. Auch weil die Jungs raffiniert sind. Sie wählen die Orte, an denen sie aktiv sind, scheinbar ohne System. Damit die Stasi keine Rückschlüsse auf ihren Wohnort ziehen kann. Einmal fahren sie sogar bis Plauen, wo sie die Flugblätter ebenfalls in Hausbriefkästen verteilen. Die Stasi vermutet vorübergehend eine vogtländische Untergrundgruppe hinter dieser „staatsfeindlichen Aktion“. Rocco Schettler und Enrico Seewald überspannen das rote Moped, mit dem sie an ihre Einsatzorte fahren, öfters mit einem Stoffbezug, um die Farbe zu wechseln. Bei ihren Aktionen tragen sie Handschuhe. Im Sommer überkleben sie die Fingerkuppen mit Pflaster, um keine Abdrücke zu hinterlassen.

Seewald und Schettler spielen mit dem MfS Katz und Maus. Oder Räuber und Gendarm. Nur in diesem Fall ist das alles bitterer Ernst. Generalmajor Gehlert platzt der Kragen. Aus Dokumenten geht hervor, wie er seine Offiziere beschimpft, die zum Teil betrunken zum Dienst gekommen sind. Die Genossen legen im Juni 1981 einen sogenannten Operativen Vorgang an. Er bekommt den Decknamen: „Kleber“. Damit steht der Fall in der Prioritätenliste ganz oben, wird zu einem sogenannten Republikschwerpunkt. Die Ermittler aktivieren ihre Spitzel in der Kirche. Zuallererst vermuten sie den oder die Täter dort. IM Herbert beispielsweise hat im Pfarramt St. Matthäus in Karl-Marx-Stadt alle vorhandenen Schreibmaschinen aufzulisten. Ein hauptberuflicher Kirchenmitarbeiter – IM Conny – bekommt die Order, den Schriftverkehr in einer bestimmten Gemeinde zu kontrollieren. Die Stasi kontaktiert den Bezirksschulrat, überprüft bei ihm eingegangene Beschwerden, die es zum Wehrunterricht und zur vormilitärischen Ausbildung gegeben hat. Alles vergeblich.

Wolfenbüttel, Niedersachsen, Februar 2025. Rocco Schettler sitzt in seinem kleinen Geschäft, als er mit der „Freien Presse“ telefoniert. Er verdient sein Geld mit der Vermietung von Gartengeräten. Seine Stimme klingt ruhig. Schettler wirkt gelassen. „Aber ich spüre Genugtuung, wenn ich heute die Akten von damals lese. Wie sich die Stasi an uns die Zähne ausgebissen hat. Wie Gehlert getobt hat, weil seine Leute so lange ohne Erfolg nach uns gesucht haben“, sagt er. Sein Freund und er hätten nicht ausgeschlossen, dass sie irgendwann einmal geschnappt werden könnten, erzählt Schettler heute, doch mit zunehmender Zeit wären sie immer sicherer geworden.

Karl-Marx-Stadt, November 1981. Das ist der entscheidende Monat. Aber vorerst ist das MfS noch keinen Schritt weiter. Laut den von ihr erstellten Täterprofilen sind die beiden „Staatsfeinde“ über 25 und besitzen einen Hochschulabschluss. Am 7. November fahren Seewald und Schettler in den Karl-Marx-Städter Stadtteil Ebersdorf, klemmen in der Franz-Wiesner-Straße ihre Flugblätter unter die Scheibenwischer mehrerer Autos. Diesmal ist die Geheimpolizei schon 30 Minuten später am Tatort, setzt Fährtenhunde ein. Aber wieder verläuft die Fahndung im Sande. Gehlert befürchtet Schlimmeres. Er schreibt am 11. November 1981 in einem Telegramm an die „Leiter aller operativen Diensteinheiten“, dass „die Täter durch die bisher nicht erfolgte Entlarvung zu weiteren und in der Intensität noch steigenden Handlungen motiviert werden“.

Dann passiert etwas, wofür Enrico Seewald und Rocco Schettler und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Stasi-Unterlagenarchiv in Chemnitz bis heute keine Erklärung haben. Am Morgen des 26. November 1981 wird Rocco Schettler gegen neun Uhr auf dem Weg in die Berufsschule im Park der Opfer des Faschismus in Karl-Marx-Stadt überraschend festgenommen. Ein aus vier Mann bestehendes Greifkommando zerrt ihn in einen Lada. Zeitgleich führen MfS-Offiziere Enrico Seewald aus einer Sparkassen-Zweigstelle in Karl-Marx-Stadt ab, wo er eine Lehre zum Bankkaufmann absolviert und gerade noch eine Kundin am Schalter betreut hat. Die beiden Jugendlichen kommen in Untersuchungshaft.

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Re: Mit der Stasi Katz und Maus gespielt

Beitragvon augenzeuge » 2. März 2025, 18:05

Dann passiert etwas, wofür Enrico Seewald und Rocco Schettler und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Stasi-Unterlagenarchiv in Chemnitz bis heute keine Erklärung haben.


Muss doch in der Akte stehen. Vermute, die hat einer verpfiffen, der sie gesehen hat.
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Re: Mit der Stasi Katz und Maus gespielt

Beitragvon pentium » 2. März 2025, 18:08

augenzeuge hat geschrieben:
Dann passiert etwas, wofür Enrico Seewald und Rocco Schettler und auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Stasi-Unterlagenarchiv in Chemnitz bis heute keine Erklärung haben.


Muss doch in der Akte stehen. Vermute, die hat einer verpfiffen, der sie gesehen hat.
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Erst mal nur in der Freien Presse. Wenn die Materialien lückenhaft sind. Kann das nicht in der Akte stehen...
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