Land am Abgrund
Italien ist auf dem Weg zum "failed state"
Bislang haben sich die Italiener durch jede Krise gemogelt. Doch diesmal wird es eng. Eine lahme Wirtschaft und kranke Banken bedrohen das Land – und ein Blick in die Statistik beunruhigt noch mehr.
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Italien, das ist der kranke Mann Europas...
Denn Italien steht an einem Abgrund, der möglicherweise tiefer ist als je zuvor in seiner Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges.
Wer wissen will, wie schlimm die Lage ist, muss den jüngsten Italien-Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) lesen. Von "monumentalen Herausforderungen" ist da die Rede. Davon, dass das Land erst in knapp einem Jahrzehnt wieder jene Wirtschaftsleistung erreichen dürfte, die es vor Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 hatte.
Schleichende ImmobilienkriseDie größte Gefahr aber geht vom maroden Bankensystem aus. 360 Milliarden Euro an faulen Krediten schlummern angeblich in den Bilanzen. Der italienischen Notenbank zufolge entspricht das rund 18 Prozent der gesamten Kredite. Zwar verweisen italienische Offizielle darauf, dass viele Kredite mit Sicherheiten wie Immobilien hinterlegt sind. Das Problem ist nur, dass das Land längst in einer schleichenden Immobilienkrise steckt.
Die Preise sind nicht so abrupt abgestürzt, wie das in Spanien oder Irland der Fall war. Doch der langsame Wertverfall vernichtet Jahr um Jahr ein Vermögen in dreistelliger Milliardenhöhe. Allein seit 2010 ging es 15 Prozent nach unten. Damit erodieren auch die Sicherheiten. Deshalb gehen Immobilienkrisen meist Hand in Hand mit Bankenkrisen.
Die Probleme sind so riesig, dass sie ein Land in dieser schwierigen wirtschaftlichen und auch politischen Gemengelage kaum allein meistern kann – und wenn, dann nur unter Umgehung der neuen europäischen Rettungsrichtlinien.
Was weit weg zu sein scheint von den Sorgen normaler Leute, hat den Alltag der Italiener längst erreicht. "So hat es keinen Sinn mehr zu leben", schreibt Salvatore De Francesco am 8. Juli in einem Brief an seine Frau und seine beiden kleinen Kinder. Dann stürzt er sich aus dem Fenster in seinem Heimatort Marcianise nördlich von Neapel. 43 Jahre ist er zu diesem Zeitpunkt alt. Im wirtschaftlich kranken Süden Italiens hat er keine Hoffnung mehr auf eine Stelle. Nicht einmal mehr auf einen Aushilfsjob. Seit 2008 haben in dieser Region knapp 8000 Firmen dichtgemacht. Für Menschen wie De Francesco gibt es dort keine Chance.
Zehn Jahre Stagnation, drei Jahre Rezession
Suizide sind in Italien ein Gradmesser für die Krise geworden. Seit 2006 steigt deren Zahl kontinuierlich an. Laut der Industrieländerorganisation OECD kamen im Jahr 2012 auf 100.000 Einwohner 6,3 Selbstmorde. Vor allem Jobverlust oder der Untergang der eigenen Firma treibt die Menschen in den Suizid. Aber auch kleine Sparer, die plötzlich vor dem Nichts stehen, wissen oft keinen anderen Ausweg mehr. So wie jener Rentner aus Norditalien, der sich im Juni das Leben nahm und dessen Schicksal die Nation bewegte. Der Ruheständler hatte seine gesamten Ersparnisse beim Niedergang der Banca Popolare di Vicenza verloren.
Bedauerliche Einzelfälle? Zehn Jahre Stagnation und drei Jahre Rezession haben Italiens Wohlstand, Ersparnisse, Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft ruiniert. Das marode Bankensystem, das der IWF als Hauptproblem ansieht, ist doch nur die Endstation einer Strukturkrise der italienischen Wirtschaft. Die über Jahrzehnte gewachsenen Missstände sind so groß, dass die wenigen Reformbemühungen der Regierung in Rom nicht ausreichen.
Mit der Krise seit 2008 haben viele der Probleme nur mittelbar zu tun, mit der Brexit-Entscheidung der Briten, die Italiens Finanzminister Pier Carlo Padoan nun ins Feld führt, noch viel weniger. Sie verstärken die Symptome, doch die wahren Probleme bestehen schon viel länger: Korruption, Mafia, Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung, ein ausuferndes Wohlfahrts- und Subventionswesen, eine unwillige Bürokratie. Nepotismus.
"Bald müssen wir die ganze Gemeinde schließen"
Gerade erst sorgt ein Fall in der Gemeinde Boscotrecase europaweit für Aufsehen: Ein Mitarbeiter des Rathauses wurde gefilmt, als er seine Karte durch die Stechuhr zog. Danach ging er wieder nach Hause. Um von den Überwachungskameras nicht identifiziert zu werden, hatte sich der Mann einen Pappkarton über den Kopf gestülpt. Mittlerweile hat die Polizei angeblich 23 von 60 Mitarbeitern der Stadtverwaltung festgenommen. In 200 Einzelfällen wird ermittelt. Bürgermeister Pietro Carotenuto klagt: "Wir laufen Gefahr, bald die ganze Gemeinde schließen zu müssen."
Vermeintlich lustige Anekdoten, die für den Zerfall eines für die EU wichtigen Staates stehen. In Italien gibt es sie schon immer. Nur war die Lage des Landes nie so schwierig wie jetzt. So haben viele private Sparer ihr Geld wegen der niedrigen Zinsen auf dem Sparkonto in Bankanleihen umgewandelt. Das ist eine Besonderheit Italiens. Mehr als 200 Milliarden Euro haben Anleger ihren Banken auf diese Art anvertraut.
Das könnte nun fatale Auswirkungen haben. Denn die neue europäische Richtlinie zur Abwicklung maroder Banken sieht vor, dass die Gläubiger mit ihren Einlagen an der Sanierung wackeliger Geldhäuser beteiligt werden. In Zypern haben die Europäer demonstriert, wie das funktioniert. Wer mehr als 100.000 Euro auf dem Konto hatte, wurde rasiert.
Bei strenger Auslegung der Regeln wäre ein großer Teil des Geldes auch in Italien weg. Mindestens 31 Milliarden Euro privater Sparer-Euro stehen auf dem Spiel, schätzt der IWF. Allein die Problembank Monte dei Paschi hat mehr als fünf Milliarden Euro an solchen Nachrangdarlehen ausgegeben und das Gros davon bei privaten Kunden platziert. Für die Menschen, deren Alterssicherung darauf basiert, ist das ein Albtraum.
Scheitert Renzi, drohen Neuwahlen. Dann könnte die Euro-feindliche Fünf-Sterne-Bewegung an die Macht kommen.Viele Italiener machen den Euro für ihre wirtschaftliche Misere verantwortlich. Vor der Euro-Einführung gelang es italienischen Regierungen über Jahrzehnte hinweg, durch alle wirtschaftlichen Fährnisse zu navigieren.
Wenn der Wettbewerbsdruck der Konkurrenznationen zu stark wurde, werteten die Italiener die Lira ab. In der Folge büßte die italienische Währung zur D-Mark zwischen 1971 und dem Euro-Start mehr als 80 Prozent an Wert ein.
Was für Deutsche nach Untergang klingt, funktionierte für die Italiener dennoch erstaunlich gut. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf als Gradmesser für den Wohlstand eines Landes konnte in Dollar umgerechnet mit der Entwicklung in Deutschland ganz gut mithalten.
Erst mit der Euro-Einführung kippte das Modell. Seitdem steckt das Land in der Dauerstagnation. Die Folgen sind bitter: Pro Kopf beträgt die Wohlstandslücke zu den Deutschen inzwischen 12.000 Dollar im Jahr.
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Totschweigen, solange es gehtAm liebsten würde man in Berlin und bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt das Thema totschweigen, so lange es geht.
http://www.welt.de/finanzen/finanzkrise ... reten.html