Das fotografische Werk von Siegfried WittenburgWährungsunion in WismarDie Verkäuferin eines Fischgeschäftes in Wismar, das bisher vor allem „Bückware“ anbot, hat ihren Arbeitsplatz auf die Straße vor dem Geschäft verlegt.
( Foto im Link ) Es sind die Tage der Währungsunion im Sommer 1990, in denen die D-Mark über die noch bis zum 3. Oktober 1990 bestehende DDR hereinbricht. Die junge Frau sitzt auf einem Hocker oder einem Stuhl hinter einem aufgeklappten Campingtisch. Auf ihm bietet sie belegte Fischbrötchen an, die auf zwei Platten angerichtet sind. Direkt vor ihr hat sie eine Wechselkasse platziert. Alles wirkt improvisiert. Passanten sind nirgends zu sehen, auch keine potenziellen Käufer. Die erhoffte Käuferklientel aus dem Westen lässt auf sich warten. Die Situation wirkt skurril. Die Markt- und Marketinggesetze des kapitalistischen Westens scheinen noch nicht ganz angekommen zu sein. Die Verkäuferin wirkt verloren und ein wenig gelangweilt. Den Fotografen scheint sie nicht zu bemerken.
„Aufmerksamkeitsökonomie“ – das aktive Bewerben der angebotenen Ware – scheint für sie noch ein Fremdwort zu sein, so wie auch in der untergegangenen DDR aktive Warenwerbung die Ausnahme war. Von daher ist das Foto ein Bild des Übergangs. Die Szenerie atmet einen morbiden Charme. Von Wiedervereinigungseuphorie ist nichts zu erkennen. Wie die Verkäuferin warten auch das Haus auf der linken Seite, das fast die Hälfte des Bildes ausfüllt und an dem eine bescheidene, wenig einladende Leuchtreklame mit der Aufschrift „Club“ angebracht ist, sowie das Gebäude dahinter auf bessere Zeiten, die sich indes auf diesem Bild nicht einstellen wollen. Von der Fassade bröckelt noch immer der Putz.
Der Fotograf hat die Szene von einer leicht erhöhten Position – vielleicht einer Leiter – aus aufgenommen, wodurch die Frau noch deutlicher von den Pflastersteinen umgeben, gleichsam ummauert, erscheint. Im Zentrum des Bildes herrscht Leere. Gegenpol zur Verkäuferin in der unteren Bildhälfte ist der LKW der Marke L60 aus DDR-Produktion, der bedrohlich im oberen Bildhintergrund lauert. Das Bild ist zudem ein stilles Bild, so wie auch die DDR ein stilles Land und die unserem Bild vorangegangene Revolution eine stille Revolution war. In diesem Sinne ist die Momentaufnahme aus Wismar ein durchaus repräsentatives Bild, das die Stimmung adäquat einfängt.
Absurdität und Skurrilität, Straßensituationen und die Stille des öffentlichen Raumes in Ostdeutschland sind die großen Themen von Siegfried Wittenburg, dem Fotografen dieses Bildes. Das Foto aus Wismar steht an einem Punkt des neuerlichen Wandels der Motive Wittenburgs. Waren es kurz zuvor noch die Akteure der stillen Revolution, das agierende Volk, dem sein fotografisches Interesse galt, so ist es hier nun wieder der Einzelne, der ungeschützt und unvorbereitet von den neuen Verhältnissen – den Gesetzen des kapitalistischen Marktes – überrollt wird.Wittenburg hat seinem Bild den Titel „Eine Billion für blühende Landschaften“ gegeben. Anders als die Verkäuferin auf seiner Aufnahme hat er gelernt, die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie anzuwenden. „Mit diesem Titel möchte ich Aufmerksamkeit erregen“, schreibt er. „Provokation wäre das falsche Wort. Die gewählten Reizworte beruhen auf Legenden, wahrgenommen während zahlreicher Debatten.
Die deutsche Einheit hat weder eine Billion gekostet (westdeutsches Märchen) noch hat jemand in diesem Sinne blühende Landschaften versprochen (ostdeutsche Legende).“[1] „Eine Billion für blühende Landschaften“ heißt auch die u.a. von der Bundesstiftung Aufarbeitung geförderte Ausstellung in der Kirche St. Georgen in Wismar im Corona-Sommer 2020 mit Wittenburg-Fotografien aus der Nachwendezeit der Jahre 1990 bis 1996.
Diese hier eingangs näher beschriebene Fotografie ist eine historische Quelle – und dies gleich in mehrfachem Sinne. Sie hält den historischen Augenblick der Währungsunion vom Sommer 1990 ausschnitthaft und exemplarisch für Wismar fest. Durch die Wahl des konkreten Sujets, durch den Zeitpunkt der Aufnahme, durch den gewählten Ausschnitt und seine Perspektive ist das Bild hochgradig „komponiert“ und damit Quelle für eine besondere Art der Fotografie. Schließlich erhält die Aufnahme durch die Wahl zum Blickfang für das Plakat zur Ausstellung „Eine Billion für blühende Landschaften“ eine herausgehobene Bedeutung für die Erinnerungsgeschichte: Durch sie sehen wir, die wir an diesem Ereignis nicht teilgenommen haben, auf einen Ausschnitt der Vergangenheit.
Um den genauen Quellenwert der Fotografien Siegfried Wittenburgs zu bestimmen, erscheint es zunächst notwendig, einen Blick auf den Fotografen zu richten, auf die politisch-kulturellen Bedingungen seiner fotografischen Praxis und auf seinen besonderen fotografischen Stil.
Mehr erfährt man hier.
https://visual-history.de/2020/07/06/da ... wittenburg