Was ist in diesen anderthalb Jahrzehnten mit Deutschland geschehen? So richtig verstehen kann es niemand. Hier in Israel fragen mich die Nachbarn, wenn sie von einem Besuch in Berlin oder München zurückkehren, wie ich mir den plötzlichen Niedergang erkläre, die trübsinnige Stimmung in dem einst hoffnungsvoll wirkenden Land, und ich muss zugeben, dass ich dazu außerstande bin. Kann die negative Ausstrahlung einer einzelnen Person ein ganzes Land erstarren lassen? Offenbar, wenn es sich um „die mächtigste Frau der Welt“ handelt, zumindest der europäischen Sphäre, und um ein Volk, so obrigkeitshörig wie die Deutschen. Anderswo dürfte man wenigstens noch Scherze über sie machen, in Deutschland wird sie in bitterem Ernst als Schicksal hingenommen.
Obwohl es unfair wäre, ihr an alledem die Schuld zu geben, ist es auch ganz unmöglich, sie, die führende Politikerin des Landes, daraus zu entlassen. Julian Reichelt, Chefredakteur der Bild-Zeitung, hat kürzlich in zwei atemberaubenden Artikeln die schwersten Fehler, verhängnisvollsten Unterlassungen, verpassten Gelegenheiten und notorischen Lügen ihrer Außenpolitik aufgelistet, dabei ist die Außenpolitik nur ein Teil der Misere. Es ist bezeichnend, dass unter ihrer Herrschaft die deutsche Demokratie soweit atrophiert ist, dass von den großen Medien nur noch die Bild-Zeitung eine kritische Analyse ihres Wirkens wagt. All die anderen, früher gern kritisch posierenden Blätter und Sender hat die tödliche Mutlosigkeit des Mitmachens erfasst, das Ja-und-Amen-Sagen zu allem, was diese Regierung tut oder lässt.
Die Angst vor dem offenen Wort ist allmächtig geworden
Auch von ihr können wir kein klares Wort erwarten. Ihre Weigerung, sich verbindlich zu äußern, ist Reflexion eines tief verinnerlichten Opportunismus: Sie steht ohnehin nicht zu ihrem Wort, verrät ihre Freunde, verleugnet frühere Versprechen. Wir haben uns an ihre verwischte, hypnotisierende Sprechweise gewöhnt, an ihre Äußerungen von gedämpfter Amplitude, ihre Kunst der nichtssagenden Formulierung. Folgerichtig ist unter ihrer Kanzlerschaft erneut die Angst vor dem offenen Wort allmächtig geworden. Und wenn man die psychologische Rückwirkung des täglichen Sprachgebrauchs auf das menschliche Denken in Betracht zieht, ist daraus längst die Angst entstanden, etwas Unkorrektes auch nur zu denken.
Zu Tugenden wie Zivilcourage und Offenheit müssen Menschen ermutigt werden – unter ihrer Führung ist das Gegenteil geschehen: Heuchler und Denunzianten werden belohnt, Unbotmäßige, selbst hohe Beamte (Sarrazin, Maaßen), demonstrativ abgestraft. Inzwischen beginnt die Angst vor dem abweichenden, ungewöhnlichen Gedanken die Kreativität und Innovationsfähigkeit des Landes zu zerstören – mit katastrophalen Auswirkungen für Volksbildung, Wissenschaft und deutsche Wirtschaft.
Sie hat das Freund-Feind-Denken innerhalb des selben Volkes wieder eingeführt, die Spaltung der öffentlichen Meinung in ein offizielles, von kaum jemandem geteiltes Narrativ der Ereignisse und eine in großen Teilen des Volkes kursierende Version, die sich in den – zunehmend zensierten – alternativen Medien mühsam Gehör verschafft.
Chaim Noll
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