Zur performativen Aneignung von 1989 durch „Querdenken“ am 7. November 2020 in Leipzig
Friedliche Revolution 2.0? Die „Querdenker“ und 1989
Die Stuttgarter Initiative „Querdenken“, die u.a. in Berlin bereits große Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie organisiert hat, agiert laut ihrem Gründer, dem Unternehmer Michael Ballweg, „aus Sorge um die derzeitigen demokratischen Prozesse und fordert den Rücktritt der Bundesregierung“[3]. Für eine weitere Protestveranstaltung im Herbst wählte sie die „Heldenstadt“ Leipzig aus, in der schon einmal Geschichte geschrieben worden sei. In diesem Sinne kündigt ein Mobilisierungs-Video für die Demonstration am 7. November eine „Friedliche (R)Evolution“ an und formuliert den Anspruch, „Geschichte gemeinsam wiederholen“.[4] Eingeladen wird hierfür nicht nur zu einer Kundgebung auf dem Leipziger Augustusplatz, sondern auch zu einem „Umzug durch die Stadt über den historischen Stadtring“. „Bringt eure Kerzen mit“, appellieren die Veranstalter*innen.[5]
Der in pathetischem Grundton gehaltene Mobilisierungsfilm präsentiert sich als Collage von Bildern der Leipziger Montagsdemonstrationen und der bisherigen „Querdenken“-Veranstaltungen. Die Aufmärsche im Herbst 1989 und im Sommer 2020 werden darin als mutige Bewegungen von unten parallelisiert: Hier Leipzig, da Berlin; damals Kerzen, heute Handylampen. Dass sich die „Querdenker*innen“ als Opfer einer Regierung sehen, die ähnliche Methoden anwende, wie das diktatorische Regime der DDR, wird in einer weiteren Einstellung deutlich. Zu sehen ist ein Transparent mit der Aufschrift „Niemand hat die Absicht eine Impfpflicht einzuführen! 1961-2020?“, gefolgt von einer Filmsequenz, in der Walter Ulbricht seine berühmten Worte über den Bau der Mauer spricht. Wie ein Blick in die Kommentarspalte nahelegt, verfehlte der Film seine beabsichtigte emotionale Wirkung nicht. „Gänsehaut pur, 1989 stand der Osten auf, 2020 steht Europa auf“ heißt es dort etwa, oder „Es treibt einen [sic] die Tränen in die Augen, wenn man das sieht. Wir haben keine andere Wahl. Raus auf die Straße, aber es wird härter als 1989.“ Nicht wenige Sympathisant*innen greifen dabei die im Film erzeugte Stimmung eines bevorstehenden Schlüsselmoments auf: „Bin dabei“, schreibt ein User, „Hab das Gefühl diese Demo wird die nächste Initialzündung für weitreichende Veränderungen sein.“
Welcher Art diese Veränderungen konkret sein sollen, bleibt hier ebenso offen wie später auf der Veranstaltung selbst.
Der Versuch, mit Bezug auf 1989 für eine „Wiederholung“ der Revolution zu mobilisieren, ist weder neu, noch auf Leipzig beschränkt. Bereits seit den 1990er Jahren wurden im Rahmen unterschiedlicher Straßenproteste, darunter die „Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV“ im Jahr 2004, Parolen und Demonstrationsformen des Herbstes 1989 aktualisiert.[6] Auch wenn die Bezüge auf den Revolutionsherbst bereits damals unter ehemaligen Oppositionellen umstritten waren, nahm die Diskussion um den Missbrauch des Erbes von 1989 in den letzten Jahren zu. Grund dafür sind vermehrte Aneignungen von rechts. Seit 2015 mobilisiert die rechtspopulistische Pegida-Bewegung in Dresden jeweils montags zu „Spaziergängen“, bei denen zwischenzeitlich Zehntausende mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ auf die Straße gingen. Vier Jahre später, zum 30. Jubiläum der „friedlichen Revolution“, stellte die AfD ihre Landtagswahlkämpfe in drei ostdeutschen Bundesländern unter das Motto „Wende 2.0“, indem sie ihre Wähler*innen aufforderte, als „Bürgerrechtler“, die „Friedliche Revolution mit dem Stimmzettel“ zu wiederholen.[7] Solche Vergleiche zwischen der gegenwärtigen Gesellschaft und der DDR dienen der Fortführung einer Widerstandserzählung. Wie 1989, so die Behauptung, stünden heute erneut widerständige Ostdeutsche bereit, um ein ungerechtes System zu stürzen.
Enactment eines historischen Moments
Das Reenactment auf dem Leipziger Innenstadtring diente stattdessen als Instrument zur Generierung neuer Bilder des Triumphs: ohne Masken und ohne Einhaltung von Abstandsregeln setzten die Demonstrant*innen ihren eigenen Ungehorsam in Szene. Im Marsch um den Ring gipfelte diese intendierte und tausendfach medialisierte Provokation.
Den vollständigen, interessanten Beitrag findet man hier:
https://zeitgeschichte-online.de/node/58284