FAZ: Vom liberalen Leitmedium zum Scharfmacher

FAZ: Vom liberalen Leitmedium zum Scharfmacher

Beitragvon augenzeuge » 23. November 2021, 12:01

Der Berichterstatter der FAZ zu rechtspolitischen Themen, Reinhard Müller, teilt mit Bezug auf die jüngste Bund-Länder-Runde per Leitkommentar Folgendes mit:

Eine Impfpflicht gegen Corona ist unnötigerweise durch die Bundesregierung frühzeitig selbst zum Tabu erklärt worden. Nun bröckelt es auch in deutschen Ländern, nachdem Österreich auf Druck seiner Bundesländer umgeschwenkt ist. Ob man die Pflicht ausdrücklich allen auferlegt oder durch Auflagen im öffentlichen Leben so gestaltet, ist sekundär. Entscheidend ist das Ziel. Wenn gehandelt werden muss, sind frühere Versäumnisse erst einmal nicht bedeutsam. Und wenn Nichtstun oder das Festhalten an untauglichen Maßnahmen zum Tod tausender weiterer Menschen führt, die womöglich allenfalls auf der Straße versorgt werden können, und wenn die Schließung der Impflücke das angemessene Mittel ist – dann führt an einer Pflicht kein Weg vorbei.

Ob man die Pflicht ausdrücklich allen auferlegt oder durch Auflagen im öffentlichen Leben so gestaltet, ist sekundär. Der Satz wäre eindeutiger ohne das unscharfe „man“, mit dem doch nur die Autorität des Staates gemeint sein kann. Dann hätte der Autor das nicht nur schreiben können, sondern müssen. „Man“ dagegen insinuiert eine Art diffuse Volksgemeinschaft, die als Autorität der Staatsgewalt zwar im Grundgesetz verankert ist, jedoch in diesem Falle wohl eher diesen „Souverän“ auf Linie bringen soll. Noch problematischer ist jedoch das auf den ersten Blick harmlose Beiwort „so“. Nicht nur wäre der Satz ohne diesen adverbialen Partikel verständlicher. Dieses „so“ lässt – ganz im Gegensatz zum Leitartikel von 1914 – diesem „man“ alle Möglichkeiten, implizit also auch die sozialen Drucks und negativer Sanktionen abseits bürgerlicher Rechte, die dann ja ebenfalls „sekundär“ sind, sei das nun „auferlegt“ oder „durch Auflagen“. Wie dem Rechtsreferenten der FAZ so eine Formulierung gelingen kann, spricht Bände über den heutigen Geisteszustand des einstigen intellektuellen Flaggschiffs, der „Zeitung für Deutschland“. Geradezu Freud’sche Elemente blühen stilistisch aus dieser Sprache, bis hin zu den „Auflagen“, an die eine Zeitung ja durchaus gebunden ist. Sind es künftig jene, die der Kommentator der Regierung so diffus wie dringlich nahelegt?

Eine kritische Einordnung wissenschaftlicher Befunde oder kultureller Konsequenzen in einer angesichts der aktuellen Lage offensichtlich verfehlten Pandemiepolitik, eine kritische Berichterstattung beispielsweise über den fatalen Abbau von fast fünftausend Intensivbetten, eine unabhängige oder auch nur streitige medizinische Einordnung des individuellen und epidemiologischen Nutzens und der Risiken von Covid-Impfungen für Kinder und Jugendliche oder der Wirksamkeit derselben bei Hochbetagten, all das sucht man in der FAZ seit Monaten, von wenigen Randnotizen abgesehen, vergebens; jegliches kritisches Denken der FAZ beschränkt sich auf „verspätetes Handeln“ der Regierung, konvergierend in den Aufruf nach härteren Maßnahmen, so als hätten die letzten Lockdowns das Land von einer schleichenden Pandemie befreit, die tagesaktuell bislang stets unter 0,5 Prozent der Bevölkerung aktiv betrifft. Auf die Idee, dass jahrzehntelange Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen und der Abbau des vormals „Zivilschutz“ genannten Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes bereits seit Jahrzehnten und nun sofort hätten wirksam adressiert werden müssen, anstatt sich die Rettung eines schon von jeder Grippewelle überlasteten Gesundheitswesens allein von Masken, Lockdowns, Regelwerken und Impfungen zu erhoffen, deren epidemiologischer Schutz, vulgo „Herdenimmunität“ längst auch von allen noch so regierungstreuen Virologen, Epidemiologen und Immunologen ad acta gelegt worden ist, kommt die FAZ dagegen nicht.

Selbst „Correctiv“ kann es besser
Die FAZ handelt wie der Fernsehzuschauer, der fester auf die Tasten drückt, wenn die Batterien der Fernbedienung nachlassen. Sie redet anstelle des nüchternen Blickes auf die Wirklichkeit mit den Mitteln der kritischen Vernunft der weiteren Zuspitzung paternalistischen, autoritären und grundgesetzkonträren Handelns der kommissarischen wie der künftigen Regierung das Wort und schürt dafür Panik vor Kranken, die womöglich allenfalls auf der Straße versorgt werden können; ein Horrorszenario. Und selbst wenn dieses Szenario bei Pandemien nie völlig ausgeschlossen werden kann, bleibt der geradezu verzweifelte Ruf der FAZ nach dem Staat fehlgeleitet, wenn er nicht mit einem dringenden Aufruf zu einer Stärkung des Gesundheitswesens in allen seinen Bestandteilen verbunden ist.

Man vergleiche damit die Erkenntnisse des nicht unbedingt als staatskritisch einzuschätzenden Mediums „correctiv“, das, anders als die FAZ, durchaus imstande ist, eine präzise und detaillierte Analyse der vielfältigen wissenschaftlichen, strukturellen und politischen Fehler in der Pandemiepolitik zu liefern. In dieser Analyse wird die Tatsache, dass es immer noch Ungeimpfte gibt, in einem Halbsatz am Ende des „Correctiv“-Artikels als vielleicht geringstes der verbleibenden Probleme erwähnt, was wie die gerade noch nötige Ergebenheitsadresse an einen Staat wirkt, dessen weitaus schlimmeres, weil bereits grundlegendes organisatorisches Versagen ansonsten wie ein einziger erratischer Block den gesamten Artikel einnimmt. Dagegen liest sich die „Kritik“ des einstigen Leitmediums FAZ wie ein Dokument der geistigen Hilflosigkeit, mit gefährlicher Zielrichtung.

Am Ende vorwärts?
Wie sagt also Goethe? Am Ende gilt immer nur vorwärts! Da hat wohl die FAZ etwas falsch verstanden an der Tradition ihrer großen Vorgängerin, der „Frankfurter Zeitung“. Sie hat die Analyse eingetauscht gegen die implizite Drohung vor einer Kulisse des Horrors, endend in dem Ruf nach weiteren Repressalien. Ich bin in dankbarer Weise ent-täuscht: Die FAZ hat ihre liberale, rechtsstaatliche Maske fallen lassen, ihr Ende als Organ der bürgerlichen Freiheit aus dem Munde ihres Rechtsreferenten öffentlich bekundet und dokumentiert. Als Zentralorgan fehlgeleiteter Scharfmacher unter den Regierenden hätte sich die FAZ zu schade sein können, vielleicht müssen. Sie ist es nicht.

Sogar der leise ausgesprochene Widerstand ist in ihr erloschen. Ihr neues „Vorwärts“ ist das in eine Zukunft als ein Zentralorgan autoritärer Verdummung im Dienste eines außerparlamentarischen, Politbüro-ähnlichen Notstandskabinetts. Dieses geistige Ende kann sich dennoch hinziehen; ist die FAZ doch die „Zeitung für Deutschland“. Sie hat mit dem zitierten Kommentar also einen Blick in ihre eigene Zukunft geworfen. Darum ende ich nicht mit Goethe, sondern mit Nietzsche: Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Jesko Matthes, Notarzt

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Re: FAZ: Vom liberalen Leitmedium zum Scharfmacher

Beitragvon Interessierter » 23. November 2021, 14:31

Nur weil man beim Thema Covid anderer Meinung ist, werden Blätter plötzlich zu Hetzorganen und Scharfmachern?

[denken]
Interessierter
 

Re: FAZ: Vom liberalen Leitmedium zum Scharfmacher

Beitragvon augenzeuge » 23. November 2021, 16:53

Interessierter hat geschrieben:Nur weil man beim Thema Covid anderer Meinung ist, werden Blätter plötzlich zu Hetzorganen und Scharfmachern?

[denken]


Ja sicher. So wie intelligente Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, von Hetzorganen oder Scharfmachern als dumme rechte Querdenker bezeichnet werden.

Bei Covid gibts doch nur noch eine geduldete Meinung, bei der man sich nicht rechtfertigen muss.

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