Zwangsarbeit in erschreckendem AusmaßEin Bild ist Norbert Wagner in lebhafter Erinnerung geblieben. Im Bus unterwegs vom Strafvollzug zur Arbeitsstätte fährt plötzlich ein zweiter Bus neben ihnen, einer aus dem Westen, wie sie schnell feststellen. Arbeiter aus der Bundesrepublik, die im Chemiedreieck der DDR ein neues Werk bauen. Das freilich wussten die Strafgefangenen damals nicht. Für sie war es eine Begegnung mit Menschen, die gleich in doppelter Hinsicht aus einer fremden Welt kamen. „Wir verständigten uns in der kurzen Zeit mit Händen und Füßen, schrieben Worte, wie etwa Gifthölle, an die Fensterscheibe. Die anderen bedeuteten uns, dass wir durchhalten sollten, irgendwie durchhalten“, sagt Wagner.
Hinter dem Busfahrer stand ein Wachmann - mit Maschinenpistole bewaffnet. Beide trennte ein Netz von den übrigen Insassen. Der Wächter versuchte vergeblich, Ruhe in die aufgebrachte Meute zu bringen. Die feierte ausgelassen diese Begegnung. „Es war irre, da gab es Menschen, die sich für uns, unser Schicksal interessierten.“ Das habe ihnen allen für lange Zeit Lebensmut gegeben, erinnert sich Norbert Wagner. Jetzt organisiert er eine Veranstaltung zum Thema Zwangsarbeit in der DDR.
Und Lebensmut war wichtig in Raßnitz, jenem Strafgefangenenlager im Dreieck zwischen Leipzig, Merseburg und Halle. Als der 18-jährige Norbert Wagner im Frühsommer 1978 nach einem kurzen Aufenthalt im Gelben Elend in Bautzen hier her kam, sah er sich
sofort an Buchenwald erinnert: „Hunde liefen am Zaun entlang, es gab Wachtürme, einen Starkstromzaun, Baracken und es herrschte ein rüder, rauer Ton. Ich war schockiert. Solche Lager gab es in der DDR, die unablässig vom Frieden redete?“ Er sollte schon bald erfahren, dass es hier noch viel mehr gab, nämlich Zwangsarbeit in erschreckendem Ausmaß. Etwas also, das es auch nach den Gesetzen der DDR gar nicht hätte geben dürfen. „Schließlich war die DDR ja ein Rechtsstaat“, sagt Wagner grinsend. Die Welt des jungen Mannes bestand fortan aus zwölf Stunden Arbeit in der Chlorelektrolyse, sechs Tage in der Woche, und der restlichen Zeit, in der die Gefangenen den Launen der Wärter ausgesetzt waren. „Wir arbeiteten unter primitivsten Bedingungen, Arbeits- oder Gesundheitsschutz gab es nicht, abgesehen von ein paar Aktivkohlefiltern, die kaum etwas nutzten. Die Halle war abgeriegelt, das heißt, es fehlte an Frischluft. Und wenn Chlorgas austrat, was häufig passierte, waren die Zwangsarbeiter dem hilflos ausgeliefert“, erinnert sich Wagner. Quecksilber, das für den chemischen Prozess benötigt wurde, war allgegenwärtig. „Die Kugeln schossen über den Boden. Einmal habe ich gesehen, dass sie auf dem Grund des Teebehälters lagen.“ Heute findet er es paradox, dass sie alle trotzdem lieber ins Bunawerk einfuhren als im Lager zu bleiben. „Dort waren die Bedingungen schlimm, ja, aber wir waren keiner Schikane ausgesetzt. Wir waren unter uns, in diese Hölle traute sich ja kaum einer. Und das Gift, nun ja, wir merkten ja nicht wirklich, wie unsere Körper Tag für Tag mehr verseucht wurden.“
40 DDR - Mark im Monat für einen KnochenjobLängst ist sich der Erfurter sicher, dass er in den Knast musste, weil die Justizbehörden Gefangene liefern mussten, Gefangene, die von der DDR-Wirtschaft dringend gebraucht werden. „Das ist mir aufgegangen, je mehr ich mich mit meiner Geschichte auseinandergesetzt habe. Die Arbeitsbedingungen in der Chlorelektrolyse waren so miserabel, dass auf regulärem Weg keine Arbeitskräfte gefunden werden konnten. Selbst wenn die Bezahlung überdurchschnittlich war, niemand ist bereit, sich auf diese Weise hinzurichten.
“ Keiner der Männer, die wegen ihres Aussehens Chlorleichen genannt wurden, wusste, für wen sie im Chemiewerk schufteten.„Dass die Erzeugnisse von Höchst und BASF gekauft wurden und die DDR dafür harte Währung erhielt, während wir mit einem Hungerlohn abgespeist wurden, ahnten wir nicht einmal.“ Wagner bekam für seinen Knochenjob rund 40 DDR-Mark im Monat, ausgezahlt in Wertgutscheinen, für die er im knasteigenen Laden einkaufen konnte. Zur Entlassung gab es noch einmal 100 DDR-Mark, damit war seine Leistung abgegolten. Arbeitsverweigerung angesichts der Zustände war unmöglich. „Dafür gab es harte Strafen, auch Prügel“, erinnert sich Norbert Wagner.
Phlegmatisch, aber Norbert Wagner wollte lebenAus der Haft kam der gerade mal 19-Jährige schwer krank zurück, aber nicht gebrochen, wie er immer wieder betont. „Natürlich war ich phlegmatisch, dazu haben die uns im Knast gemacht, aber ich wollte leben, ich war jung und hatte trotz allem meine Träume.“ Und er hatte überlebt.
Die offizielle Statistik spricht von zwei Toten in der Chlorelektrolyse. Für Wagner ist das Heuchelei. „All die anderen, die schon wenige Jahre nach ihrer Entlassung starben oder an den Spätfolgen, kommen darin doch gar nicht vor.“Heute ist Norbert Wagner aufgrund seiner körperlichen Verfassung verrentet. Quecksilbervergiftungen sind heimtückisch, und zu den Spätfolgen gehören Lähmungen, die spontan auftreten. Abseits steht der Mann aber trotz allem nicht. In der Lucas-Kirche in Erfurt ist er Küster. In der Außenstelle Erfurt des BStU hält er regelmäßig Vorträge, berichtet über seine Erlebnisse als Zwangsarbeiter in der DDR. Und er erzählt auch, dass er bis zu jenem Maitag 1978 fest daran glaubte, dass diesem Land die Zukunft gehörte. Der Vater arbeitete als Dozent für Philosophie an der Bezirksparteischule der SED, auch die Mutter war überzeugte Funktionärin. Sie hatten ihren Sohn zu einem gläubigen Sozialisten erzogen. Weil sie später, als er in den Augen der SED zum Feind wurde, zu ihrem Sohn hielten und die Anschuldigungen für Hirngespinste ansahen, verloren sie ihren Job. Jahrelang hatte Norbert Wagner über all das geschwiegen, jetzt ist es für ihn auch Therapie, anderen aus seinem Leben zu erzählen.
http://www.tlz.de/web/zgt/leben/detail/ ... -941823657Einfach erschütternd, was Bürger der DDR aufgrund von Willkür des SED - Regimes ertragen mußten.