Tod eines Proletariers

Wie waren die politischen Systeme der beiden deutschen Staaten zur Zeit des Kalten Krieges? Wo waren die Unterschiede? Gab es Gemeinsamkeiten?
Wie wurde die Politik auf beiden Seiten vermittelt?

Tod eines Proletariers

Beitragvon Interessierter » 12. April 2016, 09:31

DDR Im Gefängnis von Cottbus verbrennt sich 1978 ein Häftling. Die Stasi versucht, den tragischen Tod von Werner Greifendorf geheim zu halten. Porträt eines vergessenen Rebellen.

Freiheit", brüllte der Mann, der über den Hof für Freigänger im Cottbuser Gefängnis lief, "Freiheit!" Er war in Flammen gehüllt, brannte lichterloh, wie eine Fackel. Der Häftling hob seine Arme und schrie: "Freiheit!"

Mehr als 60 Gefangene, die am Morgen des 19. Oktober 1978 ihren Freigang absolvierten, starrten auf Werner Greifendorf, auf den brennenden Mann. Vier Häftlinge warfen sich schließlich auf ihn. Mit ihren Jacken erstickten sie die Flammen. Greifendorf schrie "Mami", dann brach er zusammen.


Wegen versuchter Republikflucht saß der 28 Jahre alte Lagerist aus Riesa im Cottbuser Gefängnis. Wollte er mit der Selbstverbrennung seine Abschiebung in die Bundesrepublik erzwingen? Auf jeden Fall wurde er sofort ins Cottbuser Bezirkskrankenhaus eingeliefert. Die Ärzte stellten Verbrennungen 1. bis 3. Grades fest, Zustand lebensbedrohlich. Drei Wochen später war Werner Greifendorf tot.

Das Ministerium für Staatssicherheit versuchte alles, seine verzweifelte Protestaktion geheim zu halten - mit Erfolg. Bis heute berühmt ist der Hallenser Pfarrer Oskar Brüsewitz, der mit seiner Selbstverbrennung 1976 gegen das DDR-System protestiert hatte. Aber kaum einer kennt Werner Greifendorf.

Erst seit vergangenem Jahr erinnert ein schmales Holzkreuz an ihn, im Hof des einstigen Zuchthauses Cottbus. Es steht ein paar Meter neben der Stelle, an der er seine mit Lackverdünner getränkte Jacke angezündet hatte. Sein Name auf dem Kreuz ist falsch geschrieben.

Werner Greifendorf ist eines der ungewürdigten Opfer der deutschen Teilung, des "antifaschistischen Schutzwalls", der angeblich den friedliebenden Arbeiter- und Bauernstaat vor den revanchistischen Attacken der Imperialisten im Westen schützen sollte.

Greifendorf wollte die Freiheit haben, in die Bundesrepublik gehen zu können. Ein gutes Jahr vor seinem Tod hatte er vor Gericht erklärt: "Ich möchte frei sein. Ich möchte nicht bestimmt werden, was ich mache."

Weiter geht es hier:
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/arti ... 695bdac7f8
Interessierter
 

Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Volker Zottmann » 12. April 2016, 12:07

Man sollte sich ruhig einmal den ganzen Bericht verinnerlichen.
Was hat der arme Kerl für eine Kindheit und ein beschissenens Dasein gefristet. Ganz normal, dass ein Mensch ohne jeden Halt abdriften kann.
Warum hat man seinem sehnlichsten Wunsch nicht entsprochen? Was hat denn der Staat davon gehabt, ihn de facto zeitlebens eingesperrt zu haben?
Nichts!
Es offenbart mir die völlig sinnlose Willkür des Staates, Menschen zu gängeln, ihnen einen bestimmten Lebensweg vorzugeben. Manch einer mag das sozial empfinden, andere wie ich sehen darin eher Freiheitsberaubung, den Diebstahl jeder Individualität.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Interessierter » 16. April 2016, 10:25

Welchen irren Aufwand die Stasi betrieb um den Tod des Gefangenen zu verheimlichen, kann man in den Ausführungen des angeführten Blogs lesen:

Auch die folgende Beisetzung geschah ganz im Verborgenen - dafür sorgte die Staatssicherheit. Die Transportpolizei erhielt die Anweisung, schon auf dem Bahnhof Riesa in der DDR akkreditierte Journalisten oder sonstige Neugierige abzufangen. Im örtlichen Volkspolizeikreisamt standen außerdem fünfzehn Mitarbeiter des politischen Zweiges des Kriminalpolizei, der so genannten K l, zum Eingreifen bereit. Die weiteren Bemühungen des Staatssicherheitsdienstes, den Vorfall zu vertuschen, lesen sich im technokratischen Stasi-Jargon wie folgt: "Durch FStW[Funkstreifenwagen]-Besatzungen des VPKA Riesa wurden die Hauptzufahrtsstraßen nach Riesa [...] überwacht, um eine unkontrollierte Bewegung von ausländischen Journalisten zu verhindern. [...] Über den Direktor des VEB Stadtwirtschaft Riesa wurden entsprechende Maßnahmen zum reibungslosen Ablauf der Trauerfeierlichkeiten getroffen. Der Sarg wurde nach seiner Überführung aus Cottbus am 13.11.1978 bis zur Beisetzung in einer verschließbaren, für fremde Personen unzugänglichen Kühlzelle in der Leichenhalle Strehla aufbewahrt. Die Überführung auf den Friedhof Riesa-Poppitz erfolgte erst unmittelbar vor der Beisetzung und unter Kontrolle einer Kontaktperson der KD Riesa. [...] Auf dem Friedhof kam eine Beobachtergruppe der Abteilung VIII, BV [Bezirksverwaltung für Staatssicherheit] Dresden mit dem Ziel der fotografischen Dokumentation und Feststellung der Trauergäste zum Einsatz. Die vorhandenen 3 Eingänge zum Friedhof wurden durch je 2 Mitarbeiter der KD Riesa und des Kommissariats l des VPKA Riesa abgesichert, die bei einem evtl. Auftauchen von Journalisten als Angehörige der Friedhofsverwaltung im Interesse der Pietät und der Achtung vor dem Toten journalistische Aktivitäten zu verhindern hatten." Das MfS sorgte sogar dafür, dass ein geeigneter Grabredner zum Zuge kam und dass die Schleifen der Kränze vor dem Ablegen überprüft wurden. Das in den Folgetagen: die Wohnung der Mutter des Verstorbenen von Stasi-Leuten observiert, alle Nachbarn sowie sämtliche Verwandten einer Postkontrolle unterworfen und auf die engeren Verwandten des Verstorbenen sogar IM angesetzt wurden, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt..

Auch wenn die Trauerfeier selbst im Verborgenen blieb, so ließ sich doch die Nachricht vom Tod des Ausreisewilligen nicht gänzlich unterdrücken. Im Herbst 1979 wurde die Entlassung bzw. Abschiebung von Inhaftierten in die Bundesrepublik schließlich unumgänglich, weil etliche Strafgefangene mittlerweile ihre reguläre Haftstrafe verbüßt hatten. Sämtliche Mitwisser wurden nun auf einmal in den Westen entlassen, um nicht mehrfach Meldungen und Gerüchte über den Vorfall auszulösen. Auf diese Weise erfuhr die westliche Presse, immerhin mit einjähriger Verzögerung, im Oktober 1979 schließlich doch von der Selbstverbrennung in der Haftanstalt Cottbus.

Was die Staatssicherheit in diesem Fall teils erfolgreich, teils erfolglos versuchte hatte, bezeichnete sie selbst mit dem stark beschönigenden Begriff "Absicherung des Strafvollzug". Damit gemeint war das Bekannt werden der teilweise katastrophalen Zustände in den DDR-Gefängnissen zu verhindern, für Ruhe und Ordnung in den Haftanstalten zu sorgen und Häftlinge wie auch deren Aufseher mit geheimpolizeilichen Methoden zu überwachen. Der Staatssicherheitsdienst nahm dabei eine Art Aufsichtsfunktion über das Gefängniswesen wahr. Dabei ging es Mielkes Mannen freilich nicht um das Schicksal der Inhaftierten, sondern darum, die Reputation des SED-Staates zu wahren, wie der eben geschilderte Fall beweist.

Die politischen Häftlinge im DDR-Strafvollzug wurden zuallererst durch die gewöhnlichen Aufseher des Organ Strafvollzugs bewacht. Sie standen bisweilen aber auch unter der Aufsicht ihrer kriminellen Mitinsassen. Während des Arbeitseinsatzes wurden sie darüber hinaus von den Betriebsangehörigen beaufsichtigt. Zusätzlich wurden sie durch die Kriminalpolizei, namentlich die so genannte Arbeitsrichtung 1/4, kontrolliert, die zu diesem Zweck Spitzel unter den kriminellen Insassen warb. Über alle zusamen - Insassen, Aufseher und Kriminalpolizei - wachte wiederum sicherheitshalber der Mielke-Apparat. Seine so genannte Operativgruppe verfügte in allen genannten Gruppen über Zuträger und fungierte als letzte und wichtigste Kontrollinstanz hinter den Gefängnismauern.

Die Haftanstalten der DDR waren aus Sicht des Staatssicherheitsdienstes ein geradezu idealer Raum zur Anwerbung von Spitzeln. Denn den Häftlingen war klar, dass es weitaus schwerer als außerhalb der Anstaltsmauern möglich sein würde, sich einer Zusammenarbeit zu entziehen. Nicht wenige Insassen waren indes von sich aus bereit, über ihre Mitinsassen zu berichten und traten als Selbstanbieter auf. Der Staatssicherheitsdienst verstand es dabei geschickt, als Gegenleistung für Denunziantentum Hafterleichterungen oder Strafrabatt in Aussicht zu stellen.


http://frauenkreis.myblog.de/frauenkrei ... eschichten
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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Dr. 213 » 16. April 2016, 14:53

Von solche Schicksalen lesen zu müssen ist schwer aber notwendig. Danke Interessierter !
Das die Geschichte so einer menschenverachtende Diktatur keine Zukunft gegeben hat, es läßt auf eine wie auch immer wirkende,
höhrere Instanz für die Gerechtigkeit hoffen. Das auf dem Weg dahin so viele Opfer notwendig waren, es macht unendlich traurig.
Und das, ohne jemals selber in den Genuss eines dieser Folterknäste gekommen zu sein.

Gruß
Dr. 213
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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Edelknabe » 16. April 2016, 19:53

Aus dem Link vom Eingangstext.(Textauszüge)

"Dabei stammte er aus der Klasse, auf die sich die Kommunisten in der DDR beriefen, aus der Arbeiterklasse. Er war ein Proletarier, ein Proletarier aus Sachsen.
Greifendorfs Vater war Glasbläser gewesen, seine Mutter Näherin. Doch die Eltern ließen sich früh scheiden, ein zweiter Mann blieb auch nicht lange bei der Mutter.


Auf der Arbeit machte er gerne krank, drückte sich und ließ schon mal sozialistisches Eigentum mitgehen. Anfang Februar 1977 privatisierte er eine Flasche Kirsch-Whisky im Wert von 6,55 Mark. Beim Ausladen mit einem Kollegen nahm jeder eine Flasche und leerte sie. Anschließend wurde sie - in guter proletarischer Tradition - als Bruch deklariert.
Textauszüge ende

Kommt das eigentlich mit der Überschrift hin? Dem mit dem Proletarier? Oder langte das wenn Vater/Mutter Werktätige waren?

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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon karnak » 17. April 2016, 08:37

Edelknabe hat geschrieben:Aus dem Link vom Eingangstext.(Textauszüge)

"Dabei stammte er aus der Klasse, auf die sich die Kommunisten in der DDR beriefen, aus der Arbeiterklasse. Er war ein Proletarier, ein Proletarier aus Sachsen.
Greifendorfs Vater war Glasbläser gewesen, seine Mutter Näherin. Doch die Eltern ließen sich früh scheiden, ein zweiter Mann blieb auch nicht lange bei der Mutter.


Auf der Arbeit machte er gerne krank, drückte sich und ließ schon mal sozialistisches Eigentum mitgehen. Anfang Februar 1977 privatisierte er eine Flasche Kirsch-Whisky im Wert von 6,55 Mark. Beim Ausladen mit einem Kollegen nahm jeder eine Flasche und leerte sie. Anschließend wurde sie - in guter proletarischer Tradition - als Bruch deklariert.
Textauszüge ende

Kommt das eigentlich mit der Überschrift hin? Dem mit dem Proletarier? Oder langte das wenn Vater/Mutter Werktätige waren?

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Eben ein Mensch der im doppelten Sinne zum Opfer geworden ist.Auf der einen Seite hineingeboren in eine zerüttete, nicht funktionierende Familie,ein sich daraus entwickelnder tiefer Zorn auf die Welt um ihn herum. Und die war nun mal dieses kleine Bisschen das sich DDR nannte,also konnte man sich nur an der "austoben"und"rächen".Auf der anderen Seite ein Staatsorgan,dass mit diesen Dingen nicht umgehen konnte,dass eigentlich auch nicht wollte,die Mühe war viel zu groß.Mir sind immer wieder solche Leute begegnet die auf Grund einer langen Vorgeschichte zwischen den Fronten zerrieben werden.Kurz gesagt,arme Schweine mit nur wenig Schuld an den eigentlichen Ursachen.
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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon zoll » 17. April 2016, 13:03

Eine fast unglaubliche Geschichte. Ich bin wirklich erschüttert. Das war schon damals so, als der Pfarrer sich selbst verbrannt hat. Es ist auch im Ganzen erschütternt, wenn man die Geschichte dieses Staates verfolgt, wie er mit seinen Bürgern umgegangen ist. Danke für die Veröffentlichung.
Der Sozialismus rühmte sich immer, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. Im nachhinein betrachtet war alles Lüge. Es ging um die Macht und um die eigene Person der Machthaber.
Das Volk war egal, es diente nur zum Machterhalt. Ohne Volk keine Macht.
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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Zeitgeschichtler » 19. Januar 2017, 11:35

die selbstverbrennung von pastor brüsewitz ist relativ bekannt, die von greifendorf hingegen nicht. genauso verhält es sich mit der selbstverbrennung von jan palach die auch jeder kennt aber nicht die namen seiner nachfolger jan zajíc, der sich ebenfalls auf dem wenzelsplatz anzündete. im selben jahr, am 4. april 1969, verbrannte sich evžen plocek.
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Re: Tod eines Proletariers

Beitragvon Interessierter » 3. Januar 2019, 12:07

Interessant auch, wie sich an diesem erschütterndem Geschehen wieder die Volkspolizei als Handlanger dieser verbrecherischen SED - Diktatur betätigte. Die SED Schergen hatten bewusst die Aufmerksamkeit auf das MfS gelenkt, um selbst aus der " Schusslinie " in Bezug auf " Verbrechen gegen die Menschlichkeit " zu kommen.

Das wiederum ermöglichte den VP - Schergen ungestört ihre Akten zu vernichten und versuchen den Eindruck zu vermitteln, dass sie doch nur übliche Polizeiarbeit verrichtet hätten. [bloed]
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